. Ein Thema, das oft im Schatten steht, hat bei der jüngsten Gießener Seniorenvorlesung Aufmerksamkeit bekommen: die Vulva. Unter dem Titel »Probleme der Vulva - was Sie schon immer wissen wollten, aber nie zu fragen wagten« erläuterte Dr. Maryam En-Nosse Anatomie, Krankheitsbilder und kulturelle Aspekte - und machte klar: »Die Vulva ist ein Organ, das oft unterschätzt wird, obwohl es viel zur allgemeinen Gesundheit beitragen kann.«
Die Oberärztin am Zentrum für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des UKGM leitet dort den Bereich Vulvaerkrankungen. Neben ihrer fachlichen Expertise bringt sie ein starkes internationales Engagement mit: In Tansania begleitet sie das Projekt »reVulv«, das rekonstruktive Eingriffe nach weiblicher Genitalverstümmelung ermöglicht und Ärztinnen und Ärzte vor Ort ausbildet. »Ich möchte mein Wissen weitergeben und setze dabei auf internationale Zusammenarbeit«, betonte En-Nosse.
Unsicherheit und unnötige Scham
Gleich zu Beginn sprach die Expertin ein Problem an. Viele Frauen kennen ihre eigenen äußeren Geschlechtsorgane kaum - etwa 30 Prozent setzen sich laut Studien damit auseinander. Das führe zu Unsicherheiten und unnötiger Scham. »Wissen ist die wichtigste Grundlage zur Vorbeugung«, so die Ärztin. Dabei verwies sie auf eine Schweizer Studie von 2018, die erstmals systematisch die Vielfalt weiblicher Genitalien vermessen hat. Ziel war es, falsche Schönheitsideale zu entkräften und zu zeigen, dass Unterschiede nicht nur normal, sondern typisch sind. So können Vulvalippen bis ins hohe Erwachsenenalter wachsen, ehe sie später wieder kürzer werden - ein oft unbekannter, aber völlig normaler Vorgang. Die Vulva umfasst alle äußeren Geschlechtsorgane - innere und äußere Vulvalippen (früher Schamlippen genannt), Klitoris, Scheideneingang und Schambein. Wertfreie Begriffe sollen helfen, Hemmschwellen abzubauen und ein selbstbewusstes Körpergefühl zu fördern. »Jede Vulva ist einzigartig und sollte nichts mit Scham zu tun haben«, lautete ihr Appell. Ausführlich erklärte die Fachärztin die Anatomie und Funktion der Klitoris - eines Organs, das lange aus Lehrwerken verschwand.
Über 8000 Nervenendigungen
Mit über 8000 Nervenendigungen ist sie das empfindlichste Organ des weiblichen Körpers. Sichtbar ist nur die Spitze, während sich die klitoralen Schwellkörper und Schenkel im Inneren verzweigen. Erst ab Mitte der 2000er-Jahre entstanden MRT- und Ultraschallbilder, die das volle Ausmaß ihrer Struktur zeigten. Beim Thema Vulvagesundheit riet die Ärztin zu einer sanften Reinigung mit Warmwasser statt aggressiver Seifen oder Sprays. Wenn Pflegeprodukte notwendig seien, sollten sie pH-neutral, auf Wasserbasis und ohne Duftstoffe sein. Denn das Mikrobiom der Vulva besteht aus Milchsäurebakterien, die für ein saures Milieu mit einem pH-Wert zwischen 3,8 und 4,5 sorgen. Sie schützen so vor Infektionen - ein Gleichgewicht, das durch Stress, Ernährung, Sex oder falsche Hygiene leicht gestört werden kann.
En-Nosse beleuchtete auch verschiedene Erkrankungen. Pilzinfektionen sind weit verbreitet, Humane Papillomviren (HPV) können Warzen oder Krebsvorstufen verursachen und in seltenen Fällen zu Vulvakrebs führen. Dabei warnte sie besonders vor der chronischen Hauterkrankung Lichen sclerosus, die schätzungsweise eine von 50 Frauen betrifft. Symptome wie Juckreiz, Schmerzen, Einrisse und Weißverfärbungen der Haut machen sie tückisch - sie kann Krebsvorstufen ausbilden und erfordert regelmäßige Kontrollen. Behandelt wird meist mit kortisonhaltigen Salben, in schweren Fällen auch operativ.
Das Thema Vulvakrebs selbst griff die Ärztin ebenfalls auf. Mit über 4000 Fällen in Deutschland ist er selten, wird aber häufig verkannt. Unauffällige Knoten oder Geschwüre erschweren die Diagnose. Ziel moderner Therapien - ob Operation, Bestrahlung oder Medikamente - ist nicht nur die Behandlung des Krebses, sondern auch der Erhalt von Form, Funktion und Lebensqualität.
Gravierende Folgen
Mit dem Alter kommen ebenfalls Veränderungen. Mit sinkendem Östrogenspiegel werden die Schleimhäute dünner, was zu Trockenheit, Juckreiz und Schmerzen führen kann - auch beim Geschlechtsverkehr. Um dem entgegenzuwirken gibt es verschiedene Ansätze, etwa die Hormonersatztherapie (HRT). Dabei unterscheidet man zwischen einer lokalen Hormonersatztherapie, die gezielt im betroffenen Bereich wirkt, und der systemischen HRT, die den ganzen Körper mit Hormonen versorgt. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf dem Thema weibliche Genitalverstümmelung. Weltweit sind über 230 Millionen Frauen betroffen, auch in Deutschland leben schätzungsweise rund 100 000 Betroffene. Gründe reichen von traditionellen Riten über Religion bis zu falschen ästhetischen Vorstellungen - mit gravierenden gesundheitlichen Folgen wie Schmerzen, eingeschränkter Funktion und Traumata. En-Nosses Engagement in Tansania zielt darauf ab, nicht nur anatomische Strukturen wiederherzustellen, sondern auch die Funktion und Sensibilität der Klitoris zu rekonstruieren.
Bettina Kemkes-Matthes, Organisatorin der Seniorenvorlesung, würdigte den Mut und die klare Sprache der Referentin: »Ein Thema, über das ungern gesprochen wird, obwohl es wichtig ist.« Beide Frauen verbindet übrigens ein lokaler Bezug: Sie besuchten das Landgraf-Ludwigs-Gymnasium in Gießen - wenn auch in unterschiedlichen Jahrgängen. Am Ende blieb vor allem ein Appell im Raum: Die Vulva ist kein Tabu. Sie ist ein wichtiger Teil des Körpers - mit Geschichte, Bedeutung und dem Recht auf medizinische und gesellschaftliche Sichtbarkeit.
Die nächste Seniorenvorlesung findet am 15. Juli um 17 Uhr c. t. im Großen Hörsaal des Instituts für Anatomie und Zellbiologie (Aulweg 123) statt. Dann berichtet Dr. Samuel Sosalla über »30 Jahre Herzinsuffizienztherapie - eine Erfolgsgeschichte?«.