. Hinter jeder Ecke Gießens verbirgt sich eine Geschichte. Jan-Patrick Wismar, Vorsitzender der Bürgerinitiative (BI) Historische Mitte Gießen (HMG), kennt sie alle. Im vierten Teil seiner Stadtführungen lotste er die Teilnehmer diesmal in das Viertel zwischen Marktplatz, Ludwigsplatz und dem Universitätsareal. Der Experte berichtete dabei etwa von Pferdemetzgern, einem Folterkeller aus der Nazi-Zeit und einstigen Flugverbindungen, die von Gießen nach Paris führten.
Wie sah es also etwa früher am Marktplatz aus? Der Ort war sehr eng, berichtete Wismar. Rechts neben dem Schlemmerlädchen verkaufte einst »Müller-Wipperfürth« Bekleidung zu günstigen Preisen. Am Ort der Geschäftsstelle der Stadtwerke war früher Betté beheimatet. Dazwischen lagen die Wettergasse, die Zwei-Häuser-Gasse. Auch die gibt es nicht mehr. Denn man wollte es nach den Zerstörungen des Kriegs luftiger haben und vor allem die autogerechte Stadt bauen.
Enge Gässchen und Rathausbögen
Marktstraße und Mäusburg gingen schon immer von hier ab. Rechts neben der »Bäckerei und Café L. Rühl« - jetzt Schlemmerlädchen -, stand jahrhundertelang das Rathaus. Dessen beide Eingangsbögen haben die Bombennacht des 6. Dezember 1944 als einzige Reste überstanden. Später misslang der Versuch, die Bögen abzureißen, weil deren Eichenpfähle tief in den Boden gerammt waren. Deshalb wurden sie schließlich gesprengt.
In der BI sei angeregt worden, zum 80. Jahrestag die alten Rathausbögen wieder aufzubauen. Doch die Stadt habe geantwortet, das Fachwerkrathaus sei ein Zeichen für den Nationalsozialismus gewesen. »Da habe ich gesagt: Liebe Stadt, das im 15. Jahrhundert errichtete Rathaus ist schon um 1900 hier an den Berliner Platz gezogen«, berichtete der Stadtführer.
Am Kugelbrunnen ging es um den Verlauf der Straßenbahn. Sie führt durch Straßen, die nur vier Meter breit waren. Es gab zwei Linien. Eine führte vom Bahnhof bis zum Neuen Friedhof. Eine bis hoch zum Trieb, der früheren Volkshalle, heute Miller Hall. In der Sonnenstraße erklärte Weimer, wo der Name herkommt. » Die Stadtmauer war acht bis zehn Meter hoch. Innerhalb war es zumeist dunkel. In der außerhalb gelegenen Sonnenstraße dagegen sonnenlichthell«, erklärte der Lokalhistoriker. Und was hat es dort mit dem Haus zur Sonne auf sich, dessen Wappen ein Schiff ziert? Hier konnten Emigranten dereinst bei der »Agentur des Norddeutschen Lloyd Bremen« die Tickets nach Übersee kaufen - vor allem in den Jahren 1860 bis 1900.
Im Neuenweg erklärte er, warum die Gaststätte »Zum Löwen« das einzige Fachwerkhaus war, das in der Innenstadt die Bombennacht überlebt hat. »Die Feuerwehr stand hier Spalier und hat eine Schneise mit Löschwasser freigehalten. So ist das Haus erhalten geblieben.« Das Café Deibel befand sich damals dort, wo jetzt die Sparkasse ist. All diese Häuser haben den Zweiten Weltkrieg überlebt und sind erst in den 1970ern abgerissen worden. Der Rundbau des ehemaligen Kaufhauses Kerber entstand aus einer der Ruinen der Bombennacht. Die Kerbers hatten sich 1933/34 jüdischen Eigentums bedient. Es sind damals Dinge passiert, die sehr unschön waren. Aber die Familie Kerber hat sich dazu nicht geäußert«, erklärte der Stadtführer.
Die Schreie der Gefolterten
An der Einmündung der Johannesstraße, dort, wo sich jetzt die McDonalds-Filiale befindet, wurden einst Pferde geschlachtet. Denn bis in die 60er, 70er Jahre wurden von etlichen Metzgereien Pferdefleisch verkauft, auch am Marktplatz, am Lindenplatz, in der Bahnhofstraße.
Und wie wurde der Keller des ehemaligen »Burghofs« genannt? »Folterkeller«, lautet Wismars Antwort. Denn etwa von 1933 bis 1944 war hier die Folterzentrale von der SS und der SA. »Zeitzeugen haben mir erzählt, dass sie die Schreie bis zur Johanneskirche gehört haben.« Dort befand sich auch das Bankhaus Herz. Am 9. November 1938 sind dessen Fenster eingeworfen worden. »Die Leute wurden auf die Straße gezerrt. Und alle Herumstehenden haben dabei zugeguckt. Niemand hat irgendetwas gesagt.«
Auch der Brand der jüdischen Synagoge wurde zum Thema des Rundgangs. Ein Zeitzeuge hat Wismar berichtet, er habe als Vierjähriger gesehen, dass Leute ihre Möbel ins Feuer der Synagoge geworfen hätten, um sie nicht entsorgen zu müssen. Das Stadttheater gegenüber hat die Kriegswirren überstanden. Auch dieses Gebäude fing Feuer. »Dann ist jemand reingegangen, hat es gelöscht und die ganze Nacht gewartet und geguckt, dass es nicht weiterbrennt.«
An der Bismarckstraße gegenüber der Liebigschule berichtete Wismar von den kleinen Siedlungen, die Gießen einst umkreisten. Darunter Selters, Läufertsrod, Ursulum. »In allen Himmelsrichtungen, nur hier nicht. Weil es als Ackerland genutzt wurde. Das war die Stephansmark. Deshalb gibt es heute die Stephanstraße.«
Und wieso gibt es gegenüber der Lio eine Wiese mitten in der Stadt? All die ehemaligen Gebäude an dieser Stelle haben den Krieg unbeschadet überstanden. »Das Areal hinter mir hat einen Namen: die Osswaldsgrube. Albert Osswald hat als OB die zwölf Häuser, die hier standen, abreißen lassen. Denn hier sollte der »Oswaldsturm« gebaut werden. Doppelt so hoch wie das Dachcafé. Irgendwann hat man gemerkt, das könnte bisschen teuer werden mit dem morastigen Untergrund und hat es sein gelassen.«
Als der Kaiser in der Stadt war
Am Dachcafé berichtete Wismar schließlich von der einstigen Kaiserallee. »Die ging vom Ludwigsplatz ab und ist heute die Grünberger Straße. Denn »im Jahr 1916 war Kaiser Wilhelm II. da.« Ein Stück weiter die Grünberger Straße hoch, auf dem Gelände eines Kunstrasenplatzes, befand sich einst ein Platz, auf dem gegen Ende des Zweiten Weltkrieges das Kriegsgefangenenlager mit bis zu 10000 Soldaten war.
Und dann war da noch der alte Gießener Flughafen. Vom Flughafengebäude an der Straße »Am Alten Flughafen« konnten die gutbetuchten Passagiere bis 1930 international fliegen. Von Paris ging eine Route über Gießen bis Königsberg, die Hauptstadt Ostpreußens, die auch von der Lufthansa bedient wurde.
Im Dezember jährt sich zum 80. Mal die Bombardierung Gießens durch die Allierten, bei der 1944 die Altstadt in Schutt und Asche gelegt wurde. Jan-Patrick Wismar hat in liebevoller Kleinarbeit die zerstörten historischen Gebäude als Modell nachgebaut. Einen Teil davon, den Marktplatz, präsentierte er am kommenden Samstag an der Engel-Apotheke der Öffentlichkeit. Am heutigen Montag um 17.30 Uhr bringt der TV-Sender SAT1 in seinem Regionalprogramm einen Bericht darüber. (rsa)