. »Hessen ist nun ausgewiesen fahrradfreundlich«, konstatierte Verkehrsminister Kaweh Mansoori angesichts der jüngst veröffentlichten Ergebnisse des ADFC-Fahrradklima-Tests 2024. Mit Frankfurt, Darmstadt und Baunatal belegen in der Tat drei hessische Städte in ihren jeweiligen Ortsgrößenklassen bundesweit den ersten oder zweiten Platz. Gießen schafft es unter den Kommunen mit 50 000 bis 100 000 Einwohnern mit einer Durchschnittsnote von 3,7 (wie 2022) auf Rang 23 (von 113). Doch während es beim Kreisverband des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) heißt, Gießen stagniere seit mehr als einem Jahrzehnt, statt sich systematisch zu verbessern, weil ambitionierte Ziele nicht konsequent umgesetzt würden, fällt das Fazit im Rathaus nicht euphorisch, aber zumindest positiver aus. Man liege immerhin im oberen Mittelfeld.
Die Online-Befragung ist freiwillig und nicht repräsentativ, in Gießen haben 465 Personen daran teilgenommen. Es handele sich also nicht um »objektiv messbare Vergleichsdaten«, so Bürgermeister Alexander Wright auf Anfrage des Anzeigers. Dennoch ergäben sich daraus »Hinweise auf wahrgenommene Entwicklungen, Problemlagen und Fortschritte im städtischen Radverkehr«.
Am stärksten schneidet Gießen ab, wenn es darum geht, dass Einbahnstraßen von Radlern auch in Gegenrichtung genutzt werden dürfen. Mit 1,9 - die Spanne der Bewertung entspricht dem Schulnotensystem - kann der insgesamt beste Einzelwert erzielt werden. Für die Stadt eine »Bestätigung für den eingeschlagenen Weg, Einbahnstraßen zu öffnen, sofern dies straßenverkehrsrechtlich zulässig ist«. Bei 90 Prozent der Einbahnstraßen sei dies bereits geschehen, weitere sind in Planung, so Wright. »Und die Erfahrungen sind durchweg positiv, Unfallschwerpunkte sind nicht aufgetreten.«
»Verkehrsversuch hat polarisiert«
Auch das öffentliche Verleihsystem »Nextbike«, das mit weiteren Velos und Stationen sowie vier Lastenrädern deutlich ausgebaut worden und für Gießener seit 2023 in den ersten 20 Minuten kostenlos ist, konnte Pluspunkte sammeln (2,0; 2024: 2,4). Erstaunlicherweise wird dieser Aspekt trotz guter Benotung von den Umfrageteilnehmern aber als eher unwichtig eingestuft. Das gilt übrigens auch für die Fahrradmitnahme in öffentlichen Verkehrsmitteln, obwohl es immer wieder dann Zoff gibt, wenn die Platzkapazitäten begrenzt sind.
Weitere Stärken sind die Erreichbarkeit des Stadtzentrums per Fahrrad (2,6), die Option des zügigen Radelns (3,0) sowie die Wegweisungen (3,2). Zugelegt hat Gießen bei den Ampelschaltungen für Radler, die Bewertung ist seit 2018 um 0,8 Notenpunkte auf 3,9 geklettert. Denn es seien in den vergangenen Jahren zahlreiche Ampeln mit eigenen Fahrrad-Signalen und Aufstellbereichen ausgestattet worden, erinnert der Grünen-Politiker. Der bundesweite Schnitt liegt bei 4,6.
Trotz mancher Fortschritte bestehe freilich noch Optimierungspotenzial. Besonders kritisch beurteilt werden das Verkehrsklima und der Umgang anderer Verkehrsteilnehmer mit Radfahrern. Konflikte mit Kfz werden mit der Note 4,7 (2022: 4,5) als größtes Defizit benannt. Auch das subjektive Sicherheitsgefühl (4,5), das Fahren im Mischverkehr mit Kfz (4,6), die Akzeptanz als Verkehrsteilnehmer (4,1) sowie das generelle Stressempfinden im Sattel (3,9) bleiben problematisch. Grundsätzlich habe die Stadt hier »eher wenig direkte Einflussmöglichkeiten«, meint Alexander Wright. Und fügt hinzu: »Der letztlich nicht verwirklichte Verkehrsversuch hat die Debatte um den Radverkehr und dessen Entwicklung in Gießen polarisiert. Die teils emotional geführte öffentliche Diskussion spiegelt sich vermutlich in den Bewertungen wider. Gerade während des unmittelbaren Rückbaus kam es zu unschönen Szenen, insbesondere für Radfahrer.« Der Bürgermeister appelliert daher an alle, aufeinander zu achten - »vor allem auf die Schwächeren ohne Knautschzone und Airbag«. Denn die Teilnahme am Straßenverkehr, so ein wesentlicher Grundsatz, erfordere ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Jeder und jede müsse sich so verhalten, dass niemand »geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird«.
Tempo 30 entlang der Nordanlage
Apropos Verkehrsversuch: Nachdem dieses Prestigeprojekt gescheitert war und die bereits vorgenommenen Veränderungen wieder rückgängig gemacht werden mussten, seien »zahlreiche sicherheitsrelevante Maßnahmen an zentralen Knotenpunkten des Anlagenrings umgesetzt worden - darunter neue Radverkehrsanlagen, Aufstellflächen vor und Vorlaufzeiten an Ampeln, farblich markierte Gefahrenstellen sowie getrennte Bus-/Rad-Spuren«, listet Alexander Wright auf. Darüber hinaus habe die Stadt erste Tempo-30-Regelungen eingeführt, zum Beispiel im Umfeld der Goetheschule - zusätzliche sollen folgen. Hierzu zähle unter anderem die geplante Geschwindigkeitsbeschränkung entlang der Nordanlage. Auch werde eine vierte Querung am Oswaldsgarten geprüft. »In diesem Zuge soll zudem untersucht werden, ob Radfahrenden künftig ein direktes Abbiegen aus der Bootshausstraße in Richtung Innenstadt ermöglicht werden kann.«
ADFC-Vorstandsmitglied Dr. Jan Fleischhauer hatte seinerseits moniert, es sei erst einmal nur dafür gesorgt worden, »dass der Kfz-Verkehr wieder fließen kann«. Trotz einiger »optimierter Kreuzungsbereiche« habe man aber den Eindruck, dass am Anlagenring »nichts mehr für den Radverkehr passiert«.
Schwächen hatte der Fahrradklima-Test ebenfalls beim Winterdienst auf Radwegen (4,3), bei der Kontrolle von Falschparkern (4,6) und bei der Radführung an Baustellen (4,6) attestiert. Alexander Wright sieht die mangelnde Zufriedenheit in diesen Bereichen »als Ansporn für die Stadt, besser zu werden«. Gerade mit Blick auf die Baustellen sei man bemüht, Umleitungen für Radfahrer zu schaffen oder alternativ das Tempo auf 30 Stundenkilometer zu reduzieren.
Außerdem kündigt der Bürgermeister an, dass die Führung der Radrouten in der und durch die Innenstadt aktuell »im Rahmen der Umgestaltung des Brandplatzes« überarbeitet werde. Dabei sollen auch die Einschränkungen an den Markttagen, etwa am Kirchenplatz, berücksichtigt werden.
Kritik hatte Dr. Jan Fleischhauer vom ADFC-Kreisverband ebenfalls daran geübt, dass sich die Situation für Radler nach dem Verkehrsversuch am Anlagenring punktuell sogar verschlechtert habe. Am Elefantenklo sei zum Beispiel die Ausfahrtmöglichkeit vom Seltersweg in die Frankfurter Straße »ersatzlos entfernt« worden, obwohl »eine Rad-Ampel ohne Einbußen für den Kfz-Verkehr« laut ADFC realisierbar gewesen wäre. Und von der Südanlage kann nicht mehr nach links in die Bleichstraße abgebogen werden, obwohl Untersuchungen zeigten, dass dies theoretisch für Räder und Autos weiterhin machbar wäre, da in Richtung Selterstor eine Kfz-Spur genüge, so Fleischhauer.
Dem widerspricht die Stadt. So könne die Frankfurter Straße nach wie vor vom Seltersweg her in Kombination mit der »Protected Bike Lane« in der Südanlage erreicht werden. »Eine Rampe zum Radfahrstreifen wird gerade geprüft«, kündigt Alexander Wright an. Die »alte« Lösung habe aber durch den Wegfall der Mittelinsel nicht mehr beibehalten werden können.
Die zudem kritisierte fehlende Linksabbiegung für Radler von der Südanlage in die Bleichstraße, die auch für KfZ nicht mehr existiert, begründet der Dezernent mit der Verkehrssicherheit. »Und wer aus der Innenstadt mit dem Rad in die Bleichstraße gelangen möchte, kann ab der Johanneskirche in die Goethestraße fahren und dort über die Lonystraße weiter in die Bleichstraße. Beide Straßen sind als Fahrradstraßen ausgewiesen.« (bl)