. Unternehmerische Verantwortung ist eine vielbeschworene Tugend. Doch was bedeutet sie konkret, angesichts einer langen Unternehmenstradition, einer unsicheren Wirtschaftslage oder veränderter politischer Umstände? Unter anderem darüber hat der Aufsichtsratsvorsitzende der Leica Camera AG, Dr. Andreas Kaufmann, im Interview mit dem Anzeiger gesprochen. Von 2004 bis 2006 investierte der deutsch-österreichische Unternehmer fortwährend in das Wetzlarer Unternehmen, bis er schließlich Mehrheitseigentümer wurde. Damals sah Leica einer wirtschaftlich unsicheren Zukunft entgegen, heute schreibt das Unternehmen wieder schwarze Zahlen.
Der bekannte Satz von Ernst Leitz II »Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert«, beendete vor 100 Jahren eine lange Debatte über die Markteinführung der Leica 1. Gilt diese Herangehensweise auch heute auch noch in einer gewisser Weise?
Man kann das nicht jeden Tag machen (lacht). Aber von Zeit zu Zeit. Die Verantwortung für ein Unternehmen, für Arbeitsplätze, auch für die Kunden, erfordert manchmal, dass man Dinge tut, bei denen man vorher durchatmen muss. Das nenne ich Verantwortung. Und dann muss man manchmal etwas riskieren. Riskieren heißt, ich sehe noch nicht genau ab, was daraus kommt. Ich habe aber ungefähr die Parameter im Auge. Zum Beispiel, wir hatten zwischen 2005 und 2009 Restrukturierung. Es lief ganz gut, aber dann kam ungeplant die Banken- und Kapitalkrise dazu. Also insofern, es wird riskiert, heißt nicht, dass man sinnlos einen Hang runterfährt, sondern dass man die wichtigsten Parameter im Auge hat, dann nochmal kurz Luft schnappen und durch.
Haben Sie ähnliches gedacht, als Sie 2005/2006 Mehrheitseigentümer und Aufsichtsratsvorsitzender von Leica wurden? Damals sah das Unternehmen einer unsicheren Zukunft entgegen.
Wir betrachten es ja nicht als Investment, sondern als unternehmerische Aufgabe. Natürlich, wir hatten bestimmte Ideen, aber das, was daraus geworden ist, hat man sich natürlich kaum vorstellen können. Der Einstieg war 2004 noch unter völlig anderen Bedingungen. Leica war eine börsennotierte Firma und der Hauptaktionär war die französische Firma Hermès - eigentlich eine gute Ausgangssituation. Wir haben dann aber durch eine Due-Diligence-Prüfung gemerkt, dass das Unternehmen in einem wirtschaftlich leicht angeschlagenen Zustand war.
Wie kam es dazu?
Eine finanzielle Schieflage entsteht nicht von allein, sondern durch Managemententscheidungen, durch bestimmte Produktentscheidungen und manchmal auch durch äußere Umstände. Der schwierigste Umstand war technologischer Art. Das M-System ließ sich nicht einfach digitalisieren - wegen der Objektivkonstruktion. Das sogenannte Auflagemaß der Leica M, also der Abstand zwischen Auflagefläche des Objektivs und Bildsensor oder Film, war zu gering für die damals verfügbaren Sensoren. Die Folge wäre schlechtere Bildqualität gewesen, weil Lichtstrahlen am Rand des Sensors anders eintreffen als in der Mitte. Das hätte man nur durch eine Abkehr vom gewohnten Design ändern können. Als ungefähr um 2004 durch das von Kodak entwickelte Mikrolinsen-Array andere Auflagemaße technisch möglich wurden, hat man dann sofort angefangen, die Digitalisierung der M zu planen, die dann 2006 als Leica M8 kam. Davor war es nicht möglich. Und das brachte eine gewisse Schieflage, die sich aufgrund der Technologie ergeben hat. Es gab noch ein paar andere.
Was hat Ihnen die nötige Zuversicht gegeben, trotzdem zu investieren?
Die Kunden. Und die Beschäftigten - da haben wir sehr gute Leute kennengelernt. Und eine gewisse Strahlkraft der Marke, die zwar damals ein bisschen verblasst wirkte, aber eben immer durchschien. Sie finden nicht viele Marken in Deutschland, die 1849 ihre Wurzeln haben und die einen so großen Einfluss auf die Fotografiegeschichte haben.
Wie wird man so einer langen Geschichte gerecht? Kann man das überhaupt?
Das Entscheidende hat die Familie Leitz geliefert. 120 Jahre, von 1869 bis ungefähr 1984. Das muss man erstmal hinkriegen. Inflation, zwei Weltkriege durchstehen und so weiter. Und daraus einen globalen Konzern mit einer hohen Bedeutung formen. Ob wir das weitere 120 Jahre durchhalten, kann ich für die Zukunft natürlich nicht sagen. Aber wenn man sich diese Frage stellt, dann ist man schon zu sehr historisch. Man muss einfach schauen, dass hier diese angelegte Tradition sauber weitergeführt wird. Sauber heißt in der Kommunikation, heißt im Design und heißt im Produkt und in der Technologie.
Spüren Sie eine gewisse Verantwortung dafür, dass diese Erfolgsgeschichte nicht endet?
Man ist ja mehrfach an uns herangetreten, ob man das Unternehmen verkaufen kann. Natürlich könnte man das machen, aber das ist nicht das, was einen Unternehmer kennzeichnet. Denn es ist ja hübsch, Geld zu haben, aber ich meine, was ist dann Ihre Bedeutung, was ist Ihre Bestimmung im Leben? Wenn man sich selbst als Unternehmer fühlt, bedeutet das, man unternimmt etwas und tut etwas und hofft, die Mittel und die Strategie dafür in der Hand zu haben.
Die Abwanderung von Industrie aus Deutschland bestimmt gerade maßgeblich das politische Geschehen. Ist das auch für Leica ein Thema?
Es ist ja ganz logisch, dass das stattfindet. Wenn die Umstände nicht passen, schaue ich mich ganz einfach um, wo ich besser produzieren kann, unter besseren Bedingungen. Das ist dummerweise eine der Realitäten in Deutschland. Schauen Sie in die Automobilindustrie. Plötzlich eine Entscheidung der EU, 2035 Verbrenner-Aus. Was macht die Zulieferindustrie? Fährt nach unten. Das ist keine tolle Industriepolitik.
Aber welche Konsequenz ziehen Sie daraus?
Also wir versuchen weiterhin, diesen Standort zu halten. Wir haben das, glaube ich, recht erfolgreich gemacht. Das demonstrieren wir auch praktisch und deutlich durch den Leitz-Park in Wetzlar. Wir zeigen, dass wir an diese Region und die Geschichte glauben. Sonst wird man irgendwann zum Heimatlosen. Es sind gute Leute hier, und diese Region hat in der Art, wie intelligent hier gearbeitet wird, eine hohe Bedeutung. Und solange man das hinkriegen kann, werden wir das auch tun.
Ebenfalls heiß diskutiert wird gerade die Remilitarisierung im Zuge der sogenannten Zeitenwende. Leica bekennt sich zu einer zivilen Nutzung seiner Produkte. Ist das noch zeitgemäß?
Unsere Position ist da relativ einfach: Wir machen Kundenprodukte, Armeen sind nicht unsere Kunden. Wir haben immer wieder die Anfragen vom Bundeswehramt gehabt aus Koblenz. Da haben wir gesagt: Bitte geht doch in den Store und kauft, aber wir liefern nicht. Schauen Sie, ein Teil der Familie Kaufmann-Hartmann war halb jüdisch, und wir haben 1938 unsere damalige Firma verkaufen müssen, aus politischen Gründen. Also insofern ist man da an der Ecke immer ein bisschen vorsichtig.
Wird es auch in Zukunft Bedarf an mittel- bis hochpreisigen Kameras geben? Oder braucht es andere Geschäftsmodelle?
Neben der Sportoptik mit Ferngläsern, die wir seit fast 120 Jahren anbieten, haben wir schon kleine Geschäftszweige etwas anderer Art. Wir haben schon 2007 angefangen, uns mit dem Smartphone als Kamera zu beschäftigen. Damals hat das fast noch niemand in dieser Industrie gemacht. Wir sind der Meinung, es gibt weiterhin Gründe für die nächsten vielen Jahre, fürs Fotografieren, wenn man gewisse Ansprüche hat, die Kamera zu verwenden. Ein gutes Bild hat damit zu tun, Licht einzufangen und damit zu malen. Das sind die zwei Elemente in der Fotografie. Also Kamera und Optik sind der größte Geschäftszweig, ganz klar, aber auch hier sehen wir in unserem Segment eine steigende Nachfrage. Unsere Home-Entertainment-Systeme, die hochwertigen Brillengläser und Uhren ergänzen das klassische Optikgeschäft. Schauen wir mal, wie das nachwächst.
Was hat sich in der Geschichte Leicas verändert?
Gleichgeblieben und nur heute anders ausgeführt ist die Internationalisierung. Leitz hat schon 1895 Auslandsvertretungen gegründet, beispielsweise in Sankt Petersburg und New York. Wir haben daraus 2005 dann eine Tugend gemacht und angefangen, die Distribution in Japan in eigene Hände zu nehmen - vor 20 Jahren gab es dort den ersten Leica Store. Heute sind wir mit rund 120 Monobrand Stores weltweit vertreten. Das ist auch eine Herausforderung. Der erste Schritt nach Lateinamerika war die Eröffnung eines Stores in Mexico City. Ansonsten ist es auch da noch relativ unbekanntes Terrain für uns. Auf dem afrikanischen Kontinent sind wir bisher nur in Kairo und in Kapstadt vertreten. Wir möchten den Weltmarkt weiter nach unseren Bedingungen für unsere Kunden gestalten. In Asien planen wir die Eröffnung von drei Stores, vermutlich noch in diesem Jahr. Gleichgeblieben ist natürlich auch der Anspruch, in der Optik führend zu sein - das zieht sich durch die ganze Unternehmensgeschichte.
Was hat sich in all den Jahren verändert?
Neu ist, wie wir das Thema der Fotografie mit den Leica-Galerien ganz anders aufgreifen. Wir haben 28 Galerien - das größte Fotografie-Netzwerk der Welt. Eine Kamera ist ein nettes technisches Gerät, aber entscheidend ist ja, was dabei rauskommt. Und das ist, was uns mit den Kunden vereinigt: dieses interkulturelle Interesse am Bild. Außerdem neigen wir immer mehr zur Community-Bildung, etwa mit der Leica Society International. Da vernetzen wir uns innerhalb der Leica-Familie. Die Tatsache, dass wir hier schon sehr lange existieren, hat zur Folge, dass wir immer wieder Elemente aus unserer Geschichte versuchen zu verstehen, aufzugreifen und weiterzuentwickeln.