- Die eindringlichen Worte des Vertreters der Nebenklage sorgen für eine schwere Stille im Gerichtssaal. Einige Sekunden lang könnte man die sprichwörtliche Nadel im Gerichtssaal fallen hören, unterbrochen nur vom leisen Schluchzen des Angeklagten, der Nebenklägerinnen und einiger Besucher im Zuhörerraum. Die Worte, die Rechtsanwalt Turgay Schmidt gerade für die Nebenkläger verlesen hat, wirken noch nach: »Wir sitzen da, mit einer Leere, die wir nicht erklären können. Nichts wird uns unsere Mama zurückbringen und dafür bist nur du verantwortlich.«
Seit Dezember muss sich ein 66 Jahre alter Mann vor der 5. großen Strafkammer des Gießener Landgerichts verantworten, weil er in der Nacht vom 29. auf den 30. Dezember 2021 seine 48 Jahre alte Ehefrau in deren Haus in Grünberg-Harbach mit einer Maschinenpistole erschossen hat. Nach der Tat stellte sich der ehemalige Bauunternehmer der Polizei. Am nunmehr 14. Verhandlungstag in dem Prozess wurden die Beweisaufnahme geschlossen und die Plädoyers gesprochen.
Für die Staatsanwaltschaft sah Friedemann Vorländer alle Mordmerkmale als erfüllt. Ein großes Fragezeichen steht für ihn jedoch hinter dem Motiv: »Welches Motiv für die Tötung vorlag, konnten wir bei allen Bemühungen hier nicht klären«, sagte Vorländer. Gleichzeitig erinnerte er jedoch an die Worte, die der Angeklagte gegenüber zwei Polizisten geäußert haben soll: »Die Frauen sind an allem schuld« und »das Leben geht weiter«. Zudem schrieb Vorländer der Einlassung des Angeklagten ein »hohes Maß an Unglaubwürdigkeit« zu. »Vieles in dieser Einlassung passt einfach nicht zusammen«, sagte der Staatsanwalt.
Auch habe der 66-Jährige keinerlei Reue für seine Handlungen gezeigt: »Sie haben keinerlei Emotionen gegenüber den Nebenklägerinnen gezeigt. Die einzige Gefühlsregung, die sie hier im Gerichtssaal gezeigt haben, war Selbstmitleid.« Für den Tatbestand sah Vorländer nur eine angemessene Strafe: »Lebenslanger Freiheitsentzug«.
Die beiden Verteidiger sahen die Beweislage dagegen weitestgehend anders: »Dass er jemanden getötet hat, ist ganz klar. Doch die Hintergründe der Tat nicht«, sagte Verteidiger Dr. Ulrich Endres. »Wir sehen jedoch nicht das Mordmerkmal der Heimtücke und kommen auf eine Totschlag-Handlung.« Die Schilderungen der Staatsanwaltschaft nannte Endres »eine durchgaloppierende Fantasie«. »Fantasie hat aber in einem Strafprozess keine Rolle zu spielen.«
Zudem sei sein Mandant mittlerweile 66 Jahre alt, »auch das sollte bei der Gemengelage eine Rolle spielen.« Der zweite Verteidiger des Harbachers, Artak Gaspar, sah das Problem in dem fehlenden Motiv: »Das können wir nicht finden, weil sich die Tat aus der Situation heraus ergeben hat. Das Ganze hat sich hochgeschaukelt.« Im Tatablauf und den Hintergründen seien zu viele Fragen offen geblieben und im Zweifel müsse der Rechtssatz »in dubio pro reo« - im Zweifel für den Angeklagten - gelten. Deshalb forderte Gaspar eine Freiheitsstrafe von maximal sieben Jahren für seinen Mandanten.
Einen ungewöhnlichen Schritt wählte dagegen die Nebenklage: Schmidt pflichtete der Staatsanwaltschaft bei, um dann eine Erklärung der Nebenkläger, den beiden Töchtern und dem Sohn der Getöteten, zu verlesen. Diese wollten sich noch einmal an den Täter wenden, fühlten sich jedoch persönlich nicht in der Lage dazu - und ermöglichten trotzdem einen Blick in die Welt der Betroffenen nach einer solchen Tat: »Noch an diesem Schicksalstag war die Welt in Ordnung für uns, dann passierte diese schreckliche Tat, die keiner von uns begreifen kann«, verlas Schmidt. »Sie hat so viel verpasst, auf das sie sich gefreut hat. Zeit mit ihren Enkelkindern, die bevorstehende Hochzeit. Wir hoffen, dass dich die Bilder der Tat nie mehr loslassen werden.« (con)