01. Dezember 2022, 13:00 Uhr

Pohlheim

Letzter Besitz zurück an Familien der Opfer

Die Arolsen Archives haben an der Adolf-Reichwein-Schule in Pohlheim die Wanderausstellung #StolenMemory eröffnet. Erinnert wird an die letzten Habseligkeiten von Opfern des Nationalsozialismus.
01. Dezember 2022, 13:00 Uhr
Die Ausstellung befindet sich in einem ausklappbaren Übersee-Container und informiert über Schicksale von Deportierten in Konzentrationslagern. Foto: Häuser

Im Mittelpunkt steht der letzte Besitz von Deportierten in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten und die Frage, wie es heute noch gelingt, diese sogenannten Effekten an Familien der Opfer zurückzugeben. Zu sehen ist die Ausstellung in einem ausklappbaren Übersee-Container auf dem Schulgelände.

Effekten sind persönliche Gegenstände, die Häftlingen bei ihrer Ankunft in den Lagern abgenommen wurden. Oft waren es Eheringe, Uhren, Füller oder Brieftaschen mit Fotos. #StolenMemory ist eine Kampagne der Arolsen Archives zur Rückgabe dieser persönlichen Gegenstände an die Angehörigen. Mehr als 650 Familien konnten seit dem Start der Kampagne 2016 bereits gefunden werden. Die Ausstellung zeigt Bilder solcher Effekten und erzählt vom Schicksal von zehn NS-Verfolgten.

Wie Christiane Weber von den Arolsen Archives bei der Eröffnung erläuterte, befinden sich bei der in Nordhessen beheimateten Organisation Hinweise zu 17,5 Millionen Menschen und 30 Millionen Dokumente. Sie wurden nach dem Krieg von den Alliierten dort hingebracht und gelagert. Viele Schriftstücke sind zugänglich und haben auch Bezüge in die heimische Region bis hin in kleinste Dörfer.

Effekten lösen emotionale Reaktionen aus

Effekten seien die absolute Seltenheit, so Weber. Sie kamen in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Arolsen mit dem Auftrag, sie an Angehörige zurückzugeben. Erst vor wenigen Jahren gab es einen neuen Anlauf dazu. Die Zuordnung und Rückgabe persönlicher Gegenstände lösen zum Teil auch eine hohe emotionale Reaktion bei den Nachfahren aus.

Unter der Überschrift »Gefunden« lenkt die Ausstellung den Blick auf persönliche Gegenstände, die bereits zurückgegeben werden konnten. Sie berichtet vom Verfolgungsweg der einstigen Besitzer und Besitzerinnen sowie den Rückgaben an ihre Familien heute. Mit dem Smartphone können die Besucher und Besucherinnen über QR-Codes Videoportraits aufrufen, in denen die Angehörigen selbst zu Wort kommen.

In der Rubrik »Gesucht« werden Effekten gezeigt, die noch auf ihre Rückgabe warten. Eine wichtige Botschaft ist deshalb auch: Jeder kann die Arolsen Archives bei der Rückgabe der Effekten unterstützen und sich selbst auf Spurensuche nach den Verfolgten und deren Familien begeben. Denn noch immer bewahrt das Archiv gestohlene Erinnerungsstücke von ungefähr 2.500 Personen aus ganz Europa auf.

»Viele Opfer der Nationalsozialisten hinterließen keine materiellen Spuren für ihre Familien, weil die Nazis ihnen alles nahmen«, so Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives. Die Rückgabe der Effekten sei für die Angehörigen deshalb oft sehr unerwartet: »Einige von ihnen wissen nichts oder nur wenig über diesen Teil der Lebensgeschichte ihrer Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten.«

Erinnerung ohne erhobenen Zeigefinger

»Wir freuen uns sehr, dass #StolenMemory in Pohlheim zu Gast ist, erklärt Geschichtslehrerin Filiz Bulut. Die Adolf-Reichwein-Schule wolle eine Erinnerungskultur ohne erhobenen Zeigefinger etablieren. Diese soll dazu beitragen, das Geschehene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, damit Geschichte sich nicht wiederhole. »Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen die Schicksale von NS-Opfern. Auch hier in Pohlheim gab es eine lebhafte jüdische Gemeinde. Viele ihrer Mitglieder wurden vom nationalsozialistischen Regime deportiert. Wir wollen die Ausstellung zum Anlass nehmen, tiefer in die Geschichten hier vor Ort einzusteigen.«

Seit August 2020 reist die Ausstellung mit ihren Containern durch Deutschland und seit Mai auch durch Polen und Belgien. Begleitend zur Ausstellung bietet stolenmemory. org interessante Einblicke: Kurze, animierte Filme mit ergänzenden Webstories erzählen von individuellen Schicksalen. Diese Materialien wurden speziell für Jugendliche entwickelt. Auf der Seite steht zudem umfangreiches pädagogisches Material zum kostenlosen Download zur Verfügung, das von Schulen und Bildungseinrichtungen auf allen Stationen der Wanderausstellung genutzt werden kann.

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