07. September 2023, 13:00 Uhr

Cölbe

»Erfahren, wie schön eine Wohnung sein kann«

70 sichtlich bewegte Gäste erlebten einen Abend mit Richard Brox, organisiert vom St.-Elisabeth-Verein, der Gemeinde Cölbe und dem Büchereiverein - unterstützt vom Netzwerk Nordhessen.
07. September 2023, 13:00 Uhr
Die Lesung mit Richard Brox stieß beim Publikum auf viel Anteilnahme. Foto: Jürgen Jacob

»Ich bekam noch eine Galgenfrist. Eine Viertelstunde wird es gewesen sein, die sie mir gewährten. Dann musste ich endgültig raus. 21 Jahre war ich alt.« So beginnt nicht nur das erste Kapitel aus »Kein Dach über dem Leben« mit erschütternden Erlebnissen von Richard Brox, sondern auch die Lesung des Autors.

Mucksmäuschenstille und Betroffenheit im Café Salamanca. Es geht um einen fast 30 Jahre langen Überlebenskampf als Obdachloser. Kurz nachdem auch sein Vater gestorben ist, muss Brox die Wohnung räumen, vielmehr wird sie geräumt - von Gerichtsvollzieher und Möbelpackern, begleitet von Polizeibeamten - zweieinhalb Zimmer, aber zu groß für einen Sozialhilfeempfänger.

Im Obdachlosenheim gelandet

Eine Willkürmaßnahme, wie er Jahre später erst erfährt. Der Sachbearbeiter hätte durchaus einen Spielraum gehabt - »Spielraum, welch unpassendes Wort, wenn es um das Dach über dem Kopf geht, um ein Stück Heimat«. Diese kleine Wohnung der Eltern, in die er in all den Jahren im Heim und als jugendlicher Streuner auf der Straße immer wieder zurückgekehrt war.

Nun steht er auf der Straße - zwei Tüten mit Habseligkeiten in der Hand - und landet im Obdachlosenheim, wo ihm während einer Nacht im Schlafsaal auch noch der letzte Rest an Hab und Gut gestohlen wird. Mehr als das erste Kapitel aus seinem Buch will und kann der sichtlich bewegte Autor nicht lesen. Zu nahe gehen ihm die weiteren Kapitel seiner autobiografischen Geschichte, die er zwar in seinem Buch erzählt, aber sie einfach nicht vortragen kann. Eine Autobiografie, bei der er kein Blatt vor den Mund nimmt, bei der alle Fakten noch mal überprüft worden sind - bis hin zum Nachweis, dass Vater und Mutter Konzentrationslager überlebt haben.

»Kein Dach über dem Leben« - ein Buch, das einer schicksalhaften Begegnung im Jahr 2009 zu verdanken ist. Der Enthüllungsreporter Günter Wallraff holte Brox im Zuge der Recherchen zur ZDF-Reportage »Unter Null - obdachlos durch den Winter« in sein Team. Wallraff erkannte dessen Talente und animierte ihn, ein Buch zu schreiben, nachdem er ihm einen Historiker als Co-Autor vermittelt hatte. Dafür stellte er Brox zum Arbeiten Wohnraum zur Verfügung.

»Ich habe zum ersten Mal erfahren, wie schön eine Wohnung sein kann«, sagt der Mann, der heute möglichst immer bei offenen Türen und Fenstern schläft. Wallraff habe ihm immer wieder geholfen, auch finanziell. »Er ist ein Freund geworden.« Entstanden ist ein Buch, über das Wallraff sagt: »Wie viel Kraft hat dieser Mann aufwenden müssen, wie viele Abgründe erneut durchleben, um diese ergreifende Biografie zustande zu bringen!«

Brox will kurz Pause machen, dann mit den Gästen ins Gespräch kommen. Doch die sind von Lesung und Erzählungen des Autors so bewegt, dass sie mehr wissen wollen über diesen besonderen Menschen, seine Lebensgeschichte und für was er sich einsetzt. Frage um Frage wird beantwortet. Dabei wird deutlich, wie sehr er gegen jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung aufbegehrt und dass es ihm darum geht, Armut und Obdachlosigkeit in unserer Gesellschaft zu überwinden.

Betroffener hilft Betroffenen

Doch Brox begehrt nicht nur auf, er betreut alte, schwerkranke Obdachlose, träumt von einem Hospiz-Hotel für sie. »Wer schwerkrank und obdachlos ist, stirbt früher«, beschreibt er offen die hohe Selbstmordrate. Und er sammelt auch Spenden, in die auch Tantiemen aus seinem Buch fließen. An diesem Abend war es am Ende ein dreistelliger Betrag.

Wenn ihn, den Sohn eines Sinto und einer Jüdin, fragt: »Was bist Du eigentlich?«, antworte er: »Ich bin Agnostiker - auf der Suche nach Gott. Aber ich habe ihn noch nicht gefunden. Vielleicht findet er ja mich, er weiß ja, wo er suchen muss.« Und was er selbst noch finden mag? »Meine Form der Heimat, meinen Seelenfrieden.«

0
Kommentare | Kommentieren