Es ist ein trüber Dezembermorgen, als ich den 43-Jährigen in seinem Reihenhäuschen in Wehrda besuche, das er mit seiner Frau Ute bewohnt. Auf mein Klingeln hin ist Hundegebell im Inneren zu hören: Blindenführhund Ringo macht sich bemerkbar, wird aber gleich von seinem Herrchen ins Wohnzimmer geschickt. Und dann sitze ich Marco Beyer gegenüber: ein adrett gekleideter Mann, bei dem äußerlich nichts darauf schließt, dasss er ein Handicap hat. Der gebürtige Pfälzer aus Landau ist seit seinem 27. Lebensjahr so gut wie blind und kann lediglich auf einem Auge noch Hell-Dunkel-Kontraste wahrnehmen.
Schon als Kleinkind stark kurzsichtig
Schon im frühen Kindesalter wurde bei dem kleinen Marco eine starke Kurzsichtigkeit festgestellt. Von der ersten Brille mit sechs Dioptrien steigerte sich die Sehstörung im Laufe der Zeit bis auf 21 Dioptrien. Die weitere Prognose für ihn war niederschmetternd: Augenärzte diagnostizierten, dass er aufgrund eines Netzhaut-Defekts irgendwann komplett erblinden würde – und behielten Recht.
Bis es soweit war, hatte Beyer bereits allerlei Hindernisse in seinem Leben überwinden müssen: angefangen von Hänseleien in der Schule wegen seiner dicken Brille über die Probleme in der Pubertät bis zu den Versuchen, trotz starker Sehschwäche in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. »Maurer war der einzige Beruf, der mir in Aussicht gestellt wurde«, erinnert sich Beyer. Doch in der Ausbildungszeit wurde klar, dass er kein räumliches Sehen hatte und noch nicht einmal krumm von gerade unterscheiden konnte. Also versuchte er es im kaufmännischen Bereich – wieder mit dem Ergebnis, dass an irgendeiner Stelle die Sehkraft nicht mehr ausreichte.
Am Schlimmsten jedoch traf Marco Beyer der Umstand, auch nicht mehr Autofahren zu können. »Das ist auch das Einzige, was mir heute in meinem Leben fehlt«, blickt er zurück auf das Jahr 2002, als er schlagartig 40 Prozent seiner Sehkraft einbüßte und dann innerhalb von anderthalb Jahren in mehreren kleineren Schüben auch noch den Rest.
Halt durch Ehe und den Kampfsport
Halt findet er in der Beziehung zu seiner zweiten Ehefrau Ute, die er 2010 über eine Bekanntschaftsanzeige kennengelernt und 2013 geheiratet hatte. Und dann ist da auch noch sein Hobby, denn Beyer ist Trainer für Selbstverteidigung und betreibt nach eigenen Angaben als wohl weltweit einziger Blinder Kampfkunst.
Nach Marburg zog es Beyer 2005 aufgrund seines Rufs als blindenfreundliche Stadt. »Hier gehören wir im Gegensatz zu meiner Heimat zur Normalität im Straßenbild. Da wirst du nicht komisch angeschaut«, verweist er auch auf die zahlreichen Erleichterungen für diesen Personenkreis im öffentlichen Raum. »Die Ampel piepst, der Bus spricht und auf den Gehwegen sind überall Rillen im Boden eingelassen.«
Mit Autobiografie Blindheit aufgearbeitet
»Die Autobiografie habe ich geschrieben, um meine Blindheit aufzuarbeiten«, erzählt der Wahl-Marburger. Er will von seinen Erfahrungen berichten: bei Lesungen in Kitas und Schulen, durch Beratung für Betroffene und Angehörige oder als Referent in Unternehmen. Das Spektrum ist vielfältig: Umgang mit der Späterblindung und dem Hilfsmittel Blindenführhund, Inklusion und Selbstverteidigung sind einige seiner Themen.
»Es ist, wie es ist«, hat sich Beyer mit seinem Schicksal arrangiert, ohne den Blick in die Zukunft zu verlieren. Soziale Projekte mit Kindern und Jugendlichen schweben ihm vor und Kampfkunstunterricht mit blinden und sehbehinderten Menschen. Auch wenn er sich im privaten Bereich »inkludiert« fühlt, formuliert er seinen Lieblingssatz: »Die Barrieren sind in den Köpfen der Menschen.« Konkret wünscht sich Marco Beyer mehr Einfühlungsvermögen der Sehenden in die Welt der Blinden – und vor allem, sie als einen »ganz normalen Teil der Gesellschaft zu integrieren«.