13. November 2024, 19:38 Uhr

Jüdische Gemeinde Gießen

Unterwegs in Jiddischland

Am Dienstagabend war das Liedermacherduo Hans Bollinger (Gitarre und Gesang) und Daniel Bollinger (Klarinette) zu Gast. Mit ihrem Programm »Amol is gewen a jidele« boten sie jüdische Lieder.
13. November 2024, 19:38 Uhr
HSCH
Hans und Daniel Bollinger zu Gast bei der Jüdischen Gemeinde. Foto: Schultz

Die Jüdische Gemeinde lädt immer wieder zu Konzerten in ihrem gemütlichen kleinen Saal im Burggraben ein. Am Dienstagabend war das Liedermacherduo Hans Bollinger (Gitarre und Gesang) und Daniel Bollinger (Klarinette) zu Gast. Mit ihrem Programm »Amol is gewen a jidele« boten sie jüdische Lieder aus allen möglichen Teilen der Welt. Die beiden Profis spielten ein Programm mit zum Teil weitgehend unbekannten Liedern und professionellem handwerklichen Niveau. Hans Bollinger moderierte die auf Jiddisch gesungenen Werke geschichtsbewusst und humorvoll.

Dow Aviv, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, begrüßte die Besucher im voll besetzten Saal: »Wir freuen uns immer sehr, wenn Sie den Weg zu uns finden.« Das Publikum zeigte sich dann auch sehr angetan: Die Lieder waren meist tanzbar, das erste hieß denn auch einfach »Tanz« und wärmte nach einem sanften Intro die Atmosphäre schon mal an. Im Nu spürten die Zuhörer Bewegungsimpulse in den Beinen.

Daniel Bollinger, geboren 1979 in Saarbrücken, ist Solo-Klarinettist der Badischen Staatskapelle. Er hat einen Lehrauftrag an der Hochschule für Musik. Hans Bollinger, Jahrgang 1949, war Mitbegründer und Kopf der Musikgruppe Espe, mit der er bis 1993 zahlreiche Alben aufnahm. Espe interpretierte traditionelles jiddisches Liedgut und schuf neue Lieder in jiddischer Sprache. In Gießen umfasste sein Programm nun jiddische Lieder, die einen Bogen spannten von den Stetln Osteuropas bis zu den Liedern des »Bundes«, aus der Zeit der Vertreibung, aus den Ghettos, von Partisanen und Widerstand und aus der »Neuen Welt«.

Schon im zweiten Song, »Findjan« zeigte sich die handwerkliche Klasse Daniel Bollingers. Der Klarinettist ließ sein Instrument gleichsam einschweben. »Wir möchten Sie entführen ins Jiddischland« sagte Hans Bollinger dazu. Bei den meisten Liedern verstand man den Text nur teilweise, obwohl der Gesang tadellos intoniert und sorgfältig artikuliert war.

Stimmungsvoll und fetzig kam »Spilt eich libe Kinderlech«, mit einem Tanzrhythmus, der sogleich zündete. Einfühlsam fügte Daniel Bollinger die klezmertypischen tirilierenden Läufe hinzu, emotional und nie klischeehaft. So wurde »Moyshele«, ein stiller Rückblick in die Jugend, zu einem fast andachtsvollen Titel.

Zum Teil waren auch fast historische Geschichten zu hören. Es ging etwa um Vertreibung wie in den »Tränen des Müllers« (»Des millners trern«). Doch es überwog die heitere Note wie etwa in »10 Brider«, das nach dem Muster eines Abzählreims konstruiert ist (»Da waren’s nur doch drei«). Dazu umriss Hans Bollinger den Alltag der Beteiligten: »Jeder handelt mit was, geht dahin und stirbt.«

Unbeirrbarer Optimismus spricht aus »Mir lebn ejbig«. Das Lied ist das Finale einer Revue »Mojsche halt sich«, die 1943 im von den Nazis errichteten Wilnaer Ghetto komponiert und aufgeführt wurde. Hier gelang die Realisation des Gitarrenparts besonders rund und perlig. So entstand ein Streifzug durch die jiddische Musik, traditionsbewusst und musikalisch auf tadellosem Niveau. Riesenbeifall.



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