. Die Stadtwerke Gießen (SWG) haben eine positive Jahresbilanz 2023 gezogen. Als eine der Errungenschaften zählten die Vorstände dabei das Thema »Mieterstrom« auf. Dieses Konzept wurde unter anderem im Neubaugebiet Philosophenhöhe angewandt, wo »praktisch alle verfügbaren Dachflächen von vornherein mit Photovoltaikmodulen ausgestattet« wurden, so der Technische Vorstand Matthias Funk. Mieter dieser Häuser werden also zu 100 Prozent mit Ökostrom versorgt. »Das klingt zunächst gut«, sagt Stefan Kaisers, Sprecher des Mietervereins Gießen, aber »der Haken liegt beim hohen Strompreis«.
In einer Pressemitteilung rät der Mieterverein den Mietern und Eigentümern: »Vor Vertragsabschluss sollten die Strompreise sehr genau verglichen und auf die Laufzeit der Verträge geachtet werden.« Auch im Neubaugebiet Philosophenhöhe. Denn laut Kaisers liege der »Knackpunkt« im Konzept Mieterstrom darin, dass die Mieter oder Hauseigentümer den Strom beziehen und dafür den Preis bezahlen. Und dieser Preis, den die SWG anbieten, sei zu hoch.
Mindestens zehn Prozent Abschlag auf den Grundversorgungstarif verspricht der Energieversorger. »Wenn der Kilowattstunden-Preis des Mieterstroms mit 29,95 Cent um 2,9 Cent günstiger ist als der SWG-Grundversorgungstarif, dann ist die Darstellung in rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden«, so Kaisers. Jedoch sei der Grundversorgungstarif »bekanntlich meist der teuerste angebotene Stromtarif im Markt«, sagt der Mieterverein. Daher sei es kein besonders günstiges Angebot.
Mieter haben keine Abnahmepflicht
Auf Nachfrage des Anzeigers beziehen die SWG zu dieser Aussage klar Stellung: »Wie sich die Tarif- und Preisstruktur bei anderen Grundversorgern in deren Netzgebiet darstellt, kommentieren wir nicht. Aber bei uns ist Stand heute die Grundversorgung nicht der teuerste Stromtarif.« Obendrein sei der Mieterstrom nicht um 2,9 Cent, sondern gar um 4,48 Cent günstiger pro Kilowattstunde als der Grundversorgungstarif.
Ferner bestünde keine Abnahmeverpflichtung der Bewohnenden eines Hauses, in dem Mieterstrom angeboten wird. »Die Kundinnen und Kunden können sich freiwillig für oder gegen den Tarif entscheiden, es besteht also weiterhin eine 100 Prozent freie Wahl des Lieferanten und Tarifs«, so die SWG in der Stellungnahme. Jedoch sei das Angebot sehr attraktiv, weshalb aktuell weitere Projekte in Umsetzung und Planung seien, auch wenn das Unternehmen keine näheren Angaben zu den jeweiligen Kunden machen möchte.
Das Konzept Mieterstrom habe eine ganze Reihe von Vorteilen, versichern die SWG: »Wir bieten Bewohnerinnen und Bewohnern von Mehrfamilienhäusern die Möglichkeit, Strom von der Photovoltaikanlage beziehen, die auf dem Dach installiert ist, unter dem sie wohnen. So können sie direkt partizipieren, ohne selbst in eine PV-Anlage investieren oder sich beispielsweise um Wartung und Instandhaltung kümmern zu müssen. Und sie beteiligen sich damit aktiv an der Energiewende vor Ort.« Zudem würden Kundinnen und Kunden die Stromkosten reduzieren und von sehr fairen Vertragsbedingungen profitieren, etwa einer Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende.
Jahrespreis fast 50 Euro günstiger
Und auch gegenüber dem, nach eigenen Angaben, günstigsten SWG-Ökostromtarif »Natur-Power«, den man mit (zwölf Monate) und ohne Vertragslaufzeit (Basis) abschließen kann, sei der Mieterstrom deutlich günstiger. Ausgehend von dem im Gebiet Gießen durchschnittlichen Jahresverbrauch von 3000 Kilowattstunden zahlen Kundinnen und Kunden im Jahr 164,03 Euro für den Ökostromtarif, während der Jahrespreis für den Mieterstrom bei 115 Euro liege (und beim Grundversorgungstarif bei 128,52 Euro). Der Mieterverein, der Strom aus erneuerbaren Quellen nach eigenen Angaben begrüße, spricht beim Mieterstrom von einem »Energieliefer-Contracting-Modell«. Diese Modelle gingen jedoch vielfach zulasten der Endabnehmer von Strom oder Wärme.
Und: »Bei Strom kann man heute bei der Anbietersuche Preise sogar auf Vorkrisenniveau finden. Schaut man in die einschlägigen Vergleichsportale für Strom, so finden sich dort viele Angebote, die deutlich günstiger sind als der SWG-Tarif, auch für Ökostrom, um den es sich ja bei Solarstrom handelt.«
Die Stadtwerke bestätigen zwar, dass es günstigere Tarifangebote gebe, jedoch wüssten sie nicht, wie andere Anbieter ihre Preise kalkulieren und wollen dies auch nicht bewerten. »Wir können nur bestätigen, dass wir, die Stadtwerke Gießen, unsere Preise fair kalkulieren und sicherstellen, dass unsere Kundinnen und Kunden auch in Krisenzeiten jederzeit sicher und zuverlässig versorgt werden.«