17. Juni 2025, 23:36 Uhr

»Leuchtturm« der Erinnerungsarbeit

Gießen: Joachim Gaucks Lobgesang auf die Freiheit

Als Ehrengast erzählt Joachim Gauck beim Festakt zur Eröffnung des Lern- und Erinnerungsortes Notaufnahmelager Gießen auch von seiner eigenen Erfahrung als Oppositioneller in der DDR.
17. Juni 2025, 23:36 Uhr
MUZ

. Lange hat es gedauert: Vom politischen Anstoß in Gießen im Jahr 2010 über die ersten Bekenntnisse zur Einrichtung einer Gedenkstätte im Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Landesregierung 2018 bis hin zu den umfangreichen Bauarbeiten und der Konzeption der Ausstellung sind beinahe 15 Jahre vergangen. Nun war es endlich soweit - mit einer feierlichen Veranstaltung und prominenten Gästen ist der Lern- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen im Meisenbornweg eröffnet worden. Mit dabei: der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck. Für die musikalische Begleitung sorgt das Landesjugendjazzorchester Hessen.

Als Pastor in Rostock war er selbst DDR-Oppositioneller und weiß, was es bedeutet, von staatlicher Repression betroffen zu sein. Seine Rede nutzte er daher für einen Lobgesang auf die Freiheit. Denn diese werde durch das ehemalige Notaufnahmelager als Sehnsuchtsort für DDR-Geflüchtete in ganz besonderer Weise verkörpert. »Es erinnert uns daran, dass wir Deutschen Freiheit können«, merkte Gauck im Hinblick auf den Mauerfall, aber auch den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 an. »Das muss man uns immer mal ein bisschen in Erinnerung rufen.«

Das Datum der Feierlichkeiten war nicht zufällig auf den Tag angesetzt, an dem vor genau 72 Jahren sowjetische Panzer gegen die sich erhebende DDR-Bevölkerung anrollten. Der Volksaufstand spielte auch für das Notaufnahmelager in Gießen eine zentrale Rolle. Denn nicht nur suchten nach der offenbar gewordenen Repression des SED-Regimes immer mehr Ostdeutsche die Flucht - ein einst aufgestellter Gedenkstein ist inzwischen wieder an seinen ursprünglichen Standort im Innenhof zurückgekehrt. Nach einem Rundgang durch die Ausstellung (Seite 20) verweilten die Ehrengäste auch dort für einen kurzen Moment.

»Ohne die Sowjetpanzer 1953 hätte es 1954 ein wiedervereinigtes Deutschland gegeben«, erinnerte Gauck an den Grund des ehemaligen Tages der deutschen Einheit.

Die nicht selbstverständliche Freiheit zum Anlass nehmend, nutzte er die Gelegenheit aber auch für einen Rundumschlag durch die Weltpolitik - ob aktuelle Migrationsdebatten, Russlands Angriff auf die Ukraine oder Verteidigungspolitik. »Die Freiheit und die Notwendigkeit, sie zu verteidigen, sind uns in der letzten Zeit wieder sehr bewusst geworden«, führte Gauck aus. »Solche Orte wie dieser hier sind deshalb nicht nur Spiegel der Vergangenheit, sondern auch Prüfsteine der Gegenwart.«

Überzeugt von der Wichtigkeit des neuen Erinnerungsortes zeigte sich auch Hessens Kultusminister Armin Schwarz. »Wir sind hier an einem einzigartigen, authentischen Ort von nationaler Bedeutung«, betonte er. »Das Notaufnahmelager wird starke Impulse für eine lebendige Erinnerungsarbeit und Demokratievermittlung geben und einen starken Fokus auf Zeitzeugen legen, gerade auch für Schülerinnen und Schüler«, hob Schwarz die pädagogische Leistung hervor. Die Förderung von Fahrten zur Gedenkstätte werde direkt nach der Eröffnung freigeschaltet. »Wir schaffen einen Raum, in dem Vergangenheit lebendig wird und der wichtige Dialog über unsere gemeinsame Geschichte und ihre Lehren möglich ist. Die Gedenkstätte ist ein echter Gewinn für die historisch-politische Bildungsarbeit.« Und: »Ich freue mich, dass diese bemerkenswerte Erinnerungsarbeit in Hessen heute einen neuen Leuchtturm erhält.«

Die Relevanz für die Stadt hob Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher hervor. »Heute geben wir diesem Ort, dem ehemaligen Notaufnahmelager Gießen, einen neuen Namen und eine neue Aufgabe: Lern- und Erinnerungsort. Und das ist mehr als ein Titel. Es ist eine Verpflichtung«, unterstrich Becher die anhaltende Arbeit, die mit dem Projekt verbunden ist.

»Die Stadt Gießen freut sich über diesen Ort, der schon so lange zu ihrer DNA gehört und der heute auch ein neues Kapitel in unserer Stadtgeschichte aufschlägt«, so der Oberbürgermeister. Auch Geschäftsführer Dr. Florian Greiner betonte in seiner Begrüßung die vielfältige Geschichte der Einrichtung im Meisenbornweg - gerade durch die vielen Menschen verschiedener Herkunft, die hier Station machten. »Diese unterschiedlichen Nutzungsphasen machen das Lager zu einem einzigartigen Spiegel der deutschen Flucht- und Migrationsgeschichte«, wies Greiner auf die außergewöhnliche historische Rolle des Erstaufnahmelagers hin, das nach aktuellen Schätzungen über die Jahrzehnte beinahe eine Million Menschen durchlaufen haben - ob vertrieben aus den ehemaligen Ostgebieten, geflohen vor der SED-Diktatur oder den Kriegen und Regimen auf dem Balkan oder in Syrien. »Wenn ich mir nur eine Sache für unseren Lernort wünschen dürfte, dann dass sich so manch einer der zahlreicher werdenden Versteher, Erklärer oder Anhänger von autoritären politischen Staats- und Regierungsformen einmal nur zehn Minuten an einer unserer Zeitzeugenstationen anhört, was Menschen erzählen, die gerade aus einer Diktatur entkommen sind«, erhofft sich der Geschäftsführer für die Zukunft. Dank galt auch Ministerpräsident a.D. Volker Bouffier, der sich stets für das Projekt eingesetzt hatte.

Seinen Abschluss fand der Festakt in einer Gesprächsrunde, welche anschaulich die im Erinnerungsort zustande kommende Synergie zwischen den verschiedenen Generationen der Geflüchteten beleuchtete. Der Schüler des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums und Teilnehmer des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, Daniel Seibert, moderierte einen Austausch mit der 1984 aus der DDR freigekauften politischen Gefangenen Elke Schlegel und dem Asylsuchenden Mohammad Sowaid aus Syrien, den seine Flucht 2015 nach Gießen geführt hatte. »Es gab solche Orte bisher nur im Osten«, freute sich Schlegel. »Jetzt gibt es endlich auch einen in Hessen.«

,, Wenn wir heute, am 17. Juni, an das ehemalige Notaufnahmelager Gießen denken, begegnen wir einem Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, das vielen gar nicht mehr präsent ist.

,, Gießen wurde über Jahrzehnte hinweg zu einem Symbol und zum Synonym für Freiheit. Ein Sehnsuchtsort. Nicht, weil die Stadt das von Anfang an gewollt hätte, sondern weil es sich ergab. Weil die Geschichte uns dazu gemacht hat.



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