. Wenn man bei einem Philosophen das Klischee vom vergeistigten, weltfremden Sonderling im Kopf hat, dann wäre Odo Marquard sicher kein ganz schlechtes Beispiel. Der Gießener Professor machte sich nichts aus Mode, aß eher ungesund und arbeitete in einer Schreibstube, in der sich die Büchertürme bis unter die Decke stapelten. Zugleich war er ein eleganter, gewitzter und vielfach ausgezeichneter Denker, dessen pointierte Aufsätze sich auch zehn Jahre nach seinem Tod am 9. Mai 2015 ungemein aktuell lesen. Dabei umkreisen sie heutige gesellschaftliche Entwicklungen, die der von 1965 bis 1993 in Gießen lehrende Wissenschaftler kaum vorausahnen konnte.
Geselligkeit und Melancholie
Franz Josef Wetz (68), der von Marquard als Student gefördert wurde, später als Assistent bei ihm arbeitete und selbst 30 Jahre lang einen Lehrstuhl innehatte, erinnert sich im Gespräch mit dem Anzeiger an den Mann, der ihm das philosophische Denken lehrte und dem er bis zu dessen Tod eng verbunden blieb. Für Wetz ist Odo Marquard »einer der originellsten Philosophen der Nachkriegszeit«.
Auf dessen Existenzphilosophie stieß Wetz während seiner Zeit als Zivi, in der er aus Neugier ein Seminar besuchte, ohne an der Uni eingeschrieben zu sein. »Ich war sofort elektrisiert.« Für Wetz folgten Studium, Promotion und Habilitation sowie »zwölf Jahre an seiner Seite«. Marquard war ihm dabei »ein guter Chef«, der seinen Mitarbeitern »stets Freiraum für die eigene Arbeit ließ«.
Im Umgang gab sich der aus Pommern stammende, 1945 in den Westen gekommene Marquard liberal, locker und gesellig, zugleich war er ein melancholischer, bisweilen distanzierter Eigenbrötler, geprägt von einem existenziellen Pessimismus. Wie ist menschliches Leben möglich? Und: Ist es überhaupt möglich? »Diese Fragen ließen ihn zu einem Konservativen werden«, erklärt Wetz. Und zählt beispielhaft einige Positionen Marquards auf: Zukunft braucht Herkunft. Wir werden bestimmt von dem, was uns prägt. Die Beweislast hat der Veränderer. Im Hintergrund steht dabei der Gedanke: Das Leben ist brüchig, endlich und zu kurz. Wir haben daher nicht die Zeit, alles immer wieder neu zu erfinden. »Auf diese Erfahrung gründet sich sein Denken.«
Doch wie lässt sich dieses Denken nun mit der Gegenwart des Jahres 2025 verbinden? Laut Wetz lehnte Marquard alles Extreme ab. Fundamentalismus und Ideologien bedrohen so stark wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr die liberale Demokratie, für die er stand. Dabei solle die Gesellschaft »an dem festhalten, was wir schon haben, was sich bewährt hat«.
Aktuelle Beispiele, auf die sich Marquards Denken heute beziehen lassen, findet Franz Josef Wetz viele. Etwa die Corona-Pandemie. Die Versuche der Aufarbeitung »würde er heute für überzogen ansehen«. Im Nachhinein wisse man es zwar immer besser. Aber während der Pandemie sei nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt worden. Mit den Masken, die unsere Freiheit einschränkten, habe der Staat die allgemeine Gesundheit gewährleisten wollen - damit wir frei sein können. Der Staat mache sich hier also zum Anwalt unserer Interessen und sorge vor gegen unsere individuelle Verblendung. Wetz vergleicht es mit einem Autofahrer, der sich nach einer Feier angetrunken hinters Steuer setzen will. Die Freunde nehmen ihm den Autoschlüssel ab und er fühlt sich bevormundet. Am nächsten Tag ist er hingegen froh, dass andere gegen seinen Wunsch in seinem Interesse gehandelt haben.
Eine andere bemerkenswert aktuelle Gedankenfigur Marquards ist die Beobachtung, dass der Mensch trotz permanenter Verbesserung seiner Lebensumstände immer unzufriedener werde. Die Vorteile der Demokratie würden selbstverständlich und wir nähmen sie nicht mehr wahr. So entstehe ein überzogenes Anspruchsdenken, eine »Anspruchsinflation«. Wetz spricht dabei vom »abnehmenden Grenznutzen«. Statt Schwarzwald und Harz muss es nun also Mallorca oder Bali sein. Die Dosis müsse stetig gesteigert werden, um den gleichen Effekt zu erzielen. Da die Welt aber unvollkommen ist, gebe es zugleich »Restprobleme«, die vor dem Hintergrund vieler Entlastungen »eine ungeheure Bedeutung gewinnen und nach Schuldigen für den bestehenden Mangel suchen lassen.« So sprächen wir »genau das schuldig, wodurch es uns überhaupt erst gut geht: Parlamentarismus. Schulmedizin. EU.« Hier zeigt sich Marquards Aktualität aufs Schärfste. Er bietet ein schlüssiges Erklärungsmodell für die Erfolge von AfD und Trump wie für die Krise der westlichen Demokratie.
Das Leben ist brüchig und kurz
Sein Konservativismus gründe dabei im »Endlichkeitsbewusstsein«. Wetz: »Alles ist wankend, alles ist schwankend. Das Leben ist kurz. Und wir müssen Vorlieb nehmen mit dem, was ist.« Dies sei eine provisorische Moral. Aber gerade die Suche nach absoluten Fundamenten sei für Marquard nicht nur illusorisch, sondern auch gefährlich. Das Zweitbeste ist die beste Lösung. Für Marquard ist es das Bürgerliche. Doch Wetz sieht in den Thesen seines einstigen Lehrers auch Schwächen. Der Glaube an die Technik und den Fortschritt, der Glaube an das Bestehende sei etwa angesichts des Klimawandels oder der Rolle der Frauen und Minderheiten überholt. »Da widerspreche ich ihm.»
Was Marquard persönlich beschreibt: Er lebte eher einfach und bescheiden. Zusammen mit seiner Ehefrau Edeltraud in einem Reihenhaus, wo er seine Texte im Chaos seines Arbeitszimmers in die Schreibmaschine hackte. Sein Credo: Seid nicht undankbar gegen die Demokratie. Macht sie nicht verantwortlich. Bleibt bescheiden. Marquards Leidenschaft: Cola und Nussecken.
Odo Marquard, geboren 1928 in Stolp (heute Polen) kam als Vertriebener 1946 nach Treysa, wo er das Abitur ablegte. Er studierte Philosophie in Münster und Freiburg und lehrte nach seiner Habilitation von 1965 bis zu seiner Emeritierung 1993 als Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Bekannt wurde er ab den 1970ern vor allem mit seinen Essays, die sich durch ihren gewitzten, originellen Ton auszeichneten. Sich selbst bezeichnete er als »Transzendental-Belletristen« oder auch als »transzendentalen Entertainer«. Aufgrund seines Wortwitzes war Marquard auch ein viel gefragter Vortragsredner und Laudator. Er starb am 9. Mai 2015 in Celle. (bj)
Von Odo Marquards Werken liegen zahlreiche günstige Taschenbuchausgaben vor. Für Einsteiger geeignet ist der Band »Zukunft braucht Herkunft«, in dem philosophische Essays sowie ein umfangreiches Nachwort von Franz Josef Wetz abgedruckt sind. Ebenfalls lohnend ist der schmale Band »Der Einzelne« mit Vorlesungen zur Existenzphilosophie. (bj)