08. Mai 2025, 20:12 Uhr

»Rundfunkverbecher« FÜHRUNG

Ergreifende Szenen im Gerichtssaal

Lesung von Hartmut Miethe mit Briefen und Texten des von den Nazis ermordeten Gießener Ehepaars Heinrich und Liesl Will.
08. Mai 2025, 20:12 Uhr
ESCH
Ein Bild aus glücklichen Tagen: Der Gießener Maler Heinrich und seine Ehefrau Liesl Will. Foto: Archiv

. »Es ist eine Zeit, in der der Tod seine Ernte hält. Verschleudert meine Werke nicht, sondern lasst sie im Familienbesitz.« Diese Zeilen entstammen dem Abschiedsbrief Heinrich Wills an seine Familie. Am 19. Februar 1943 wurde der Gießener Kunstmaler im Gestapo-Gefängnis Frankfurt-Preungesheim hingerichtet. Die Urteilsbegründung des Volksgerichtshofs: »Landesverräterische Feindbegünstigung« und »staatsfeindliche Diskussionen«. Die Hessische Landeszeitung titelt nach der Urteilsverkündung »Zwei Rundfunkverbrecher zum Tode verurteilt«. Für die Nazis waren die Hörer ausländischer Radiosender Staatsfeinde.

Wills Ehefrau Elisabeth wurde ebenfalls verurteilt und dann in Auschwitz ermordet - die gebürtige Wienerin war jüdischer Abstammung.

Anlässlich des 130. Geburtstages von Heinrich Will zeigt das Museum für Gießen (MfG) bis zum 19. Oktober die Sonderausstellung »Heinrich und Liesl Will - Kunst im Angesicht der Diktatur«. Beleuchtet wird neben den politischen Dimensionen auch das künstlerische Werk Wills. Dabei werden erstmals viele Bilder aus Privatbesitz und dem Museumsdepot zugänglich.

Im Rahmen der Sonderausstellung hielt Hartmut Miethe, ehemaliger Pfarrer aus Grünberg, nun eine Lesung an einem ganz besonderen Ort: Dem Atelier Heinrich Wills, in dem die meisten seiner Werke entstanden waren. Es befindet sich, heute wie damals, ganz oben unter dem Dach der Goetheschule; mit einem fantastischen Ausblick auf die Burg Gleiberg, der ihm oft als Inspiration diente. Miethe pflegt persönliche Beziehungen zur Familie Will und las aus Briefen und Texten von und über die Eheleute.

Gepaart mit der besonderen Atmosphäre des Ateliers entfalteten die angesichts der Umstände tief emotionalen Briefe der Eheleute Will eine intensive Atmosphäre. Vor allem aber verlieh die Vortragsweise Miethes dem Vortrag die nötige Tiefe. Miethe beschäftigt sich mit der Geschichte jüdischen Lebens in der Region und setzt sich gegen Antisemitismus ein. Zur Ausstellung sagt er: »Die Bilder leuchten die Tragik aus«.

Heinrich Will kam 1895 in Treis, der heutigen Gemeinde Staufenberg, zur Welt und lernte seine zukünftige Ehefrau während seiner Studienzeit in Wien kennen. Liesl, 1902 in der Donaumetropole geboren, war die Tochter eines jüdischen Industriellen. 1930 heiratete das Paar und lebte fortan gemeinsam in Gießen.

Heinrich hatte sich in seinem neuen Atelier eingerichtet und malte vorwiegend die oberhessische Landschaft sowie Auftragsportraits. Er gab aber auch Kurse im Aktzeichnen. Die weite Sicht veranlasste den Künstler, seine meisten Werke in seinem Atelier zu schaffen.

Will trat 1933 dem Kampfbund für deutsche Kultur bei und wurde im selben Jahr zum Bezirksleiter Oberhessens des »Reichskartells der bildenden Künste« ernannt. Aufgrund seiner »Mischehe« im Sinne der Nürnberger Rassengesetze und weil er eine Scheidung ebenso wie Liesl ablehnte, wurde er 1936 dieses Amtes enthoben. Die Eheleute zogen sich fortan zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück.

Ab 1941 nahmen beide an den sogenannten »Freitagskränzchen« teil, einer Diskussionsrunde in der Wohnung des Theologen und Orientalisten Alfred Kaufmann. Diese Zusammenkünfte wurden später Kaufmann-Will-Kreis genannt. Beide wurden zum Tode verurteilt, Kaufmann später aber zu lebenslangem Zuchthaus »begnadigt«, während mehrere Frauen, darunter auch Liesl, zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren.

Im Gerichtssaal spielten sich nach der Urteilsverkündung ergreifende Szenen ab, wie Miethe berichtet. Aufopferungsvoll versuchte Liesl vergeblich, alle Schuld auf sich zu nehmen und ihren Mann zu entlasten. Die beiden umarmten sich ein letztes Mal, bevor sie von Gestapo-Männern auseinandergerissen wurden.

Stets plagten die Wienerin aufgrund ihrer Herkunft Schuldgefühle gegenüber ihrem Mann. Sie kam ins Frauenzuchthaus Ziegenhain und von dort nach Auschwitz. Am 17. August 1942 saß sie im letzten Waggon eines Zuges aus Frankfurt, dem Gefängniswagen, und passierte Gießen. Die vergitterten Fenster verwehrten den Insassen den Blick ins Freie, doch Liesl wusste, dass sie quasi an dem ehemaligen Atelier ihres Mannes vorbeifuhr, von wo aus man einen Blick auf die Bahnstrecke hat.

In der Sporthalle der Goetheschule wurden später die letzten evakuierten Juden eingepfercht: 330 Kinder, Frauen und Männer. Eine Gedenktafel an der Westanlage erinnert an die Opfer; lediglich sechs Menschen überlebten die Aktion, die von der Gestapo Darmstadt in einem Telegramm nach Gießen als »Meisterleistung« betitelt wurde.

Zu einer Kuratorinnenführung lädt das Museum für Gießen (MfG) am Dienstag, 13. Mai, um 18 Uhr ins Alte Schloss am Brandplatz ein. Im Rahmen der Sonderausstellung »Heinrich und Liesl Will. Kunst im Angesicht der Diktatur« gibt es Insider-Einblicke in die Ausstellung und ihre Entstehung. Die Veranstaltung ist kostenfrei. Eine weitere Kuratorinnenführung findet am 17. September statt. Am 11. Juni zeigt das Museum ein Filmprojekt von Schülern des Landgraf-Ludwig-Gymnasiums, die sich mit dem Leben und der Ermordung der Wills beschäftigt haben. Bei schönem Wetter findet die Vorführung im Schlosskeller statt. (red)



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