07. Mai 2025, 19:21 Uhr

80 Jahre Kriegsende in Gießen

Ein Sohn rettet seine Mutter

Für einige Juden aus Gießen, die vor 80 Jahren ins KZ Theresienstadt deportiert wurden, endeten die Schrecken des Zweiten Weltkrieges erst am 28. Mai 1945.
07. Mai 2025, 19:21 Uhr
IB
Der 8. Mai 1945 ist für viele Gießener bereits wieder ein ganz normaler Dienstag, sieht man mal davon ab, dass große Teile der Stadt, wie hier am Marktplatz, in Trümmern liegen. Andere wie Werner Schmidt bangen an diesem Tag immer noch um das Leben ihrer Angehörigen. Foto: Archiv Jeckel

Sie brachten uns in fremdes Land,

Dort sollten wir elend verenden.

Und niemand bot uns die hilfreiche Hand. Sie ließen sich alle verblenden!

Ein glücklicher Zufall, ein guter Stern,

Gab oft uns das güt’ge Geleite. Man hat’s überstanden & denkt heut gern

An der Wahnsinn’gen größte Pleite.

Gießen . Diese Zeilen schrieb die damals 75 Jahre alte Johanna Schmidt zehn Jahre nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Am 13. Februar 1945 war sie mit 26 weiteren Männern und Frauen auf dem letzten Transport aus Gießen wie so viele jüdische Bürger vor ihr über Frankfurt in das KZ in der bis Kriegsende immer noch deutsch besetzten Tschechoslowakei deportiert worden.

Die Ehepartner »arischer« Deutscher aus »privilegierten Mischehen« hatte das Regime zwar schikaniert und drangsaliert, aber bislang verschont. Kurz vor dem eigenen Untergang wollten die Nazis aber auch noch die letzten Angehörigen der ihnen so verhassten Minderheit auslöschen. In dem einstigen »Vorzeige-KZ« Theresienstadt, das Goebbels in den ersten Kriegsjahren gerne internationalen Beobachtern neutraler Staaten vorgeführt hatte, herrschten am Kriegsende die gleichen Horrorbedingungen wie in den Vernichtungslagern. Lange blieben die dorthin Deportierten ohnehin nicht in der völlig überfüllten ehemaligen K.u.K.-Festung. Theresienstadt war für viele die letzte Station vor der Fahrt nach Auschwitz.

»Tröstet Werner!«

Der Zeitzeuge Georg Edward hat in seinem Tagebuch diesen Transport festgehalten: »Nachmittags hörte ich, die Mutter von Dr. Werner Schmidt sei zusammen mit noch zwölf anderen Jüdinnen, die alle mit Christen verheiratet sind, von der Geheimen Staatspolizei verhaftet und weggeschafft worden. Gott weiss, ob sie je wieder nach Hause zurückkehren.«

Johanna Schmidt schafft es noch am selben Tag, zwei Zettel an ihre in Gießen verbleibende Familie zu übermitteln. Sie schreibt: »Haltet zusammen und tröstet Werner, sobald ihr von ihm hört! Ich will mich zusammennehmen und hoffe, daß ich es aushalte. Innige Grüße und Küsse, Eure Mutter.«

In der zweiten Notiz steht: »Hoffentlich könnt Ihr die Wohnung halten, damit wir uns wiederfinden. So Gott will, wird noch alles gut.«

Ihr damals 32 Jahre alter Sohn Werner verlässt sich nicht auf Gott, sondern beginnt selbst unmittelbar nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 nach dem Verbleib seiner Mutter zu forschen. Als »Halbjude« ist er zwar »wehrunwürdig« gewesen, wurde aber vom sterbenden NS-Staat noch zum Volkssturm in Bad Nauheim eingezogen. Zurück in Gießen findet er schließlich heraus, dass die Mutter und die anderen Gießener wahrscheinlich nach Theresienstadt gebracht wurden. Zusammen mit Kurt Bohling und Karl Fischer, deren jüdische Mütter ebenfalls im Februar aus Gießen verschleppt wurden, plant Schmidt die noch immer gefährliche Fahrt in den russisch besetzten Teil des besiegten »Großdeutschen Reiches«. Keiner der drei hat einen Führerschein, Autofahren war »Halbjuden« vor dem 8. Mai verboten, und für ihre Expedition benötigen sie 300 bis 400 Liter Benzin, die im zerstörten Gießen kaum aufzutreiben sind.

Am 25. Mai brechen sie schließlich gegen 7.30 Uhr mit dem Segen des ersten Gießener Nachkriegsbürgermeisters Karl Dönges auf. »Herr Doktor Werner Schmidt in Gießen ist von der Stadt Gießen beauftragt, in Einverständnis mit der hiesigen Militärregierung in Theresienstadt weitere Transporte mit Juden und Jüdinnen abzuholen (...). Es wird gebeten, ihm behilflich zu sein, daß er die Transporte ordnungsgemäß durchführen kann«, heißt es in der mit Amtssiegel und Stempel der amerikanischen Militärverwaltung beglaubigten Vollmacht.

Eine Auflage erteilt Dönges aber den dreien, denn im erst am 9. Mai befreiten KZ Theresienstadt grassiert der Typhus: »Von dem Amt für Gesundheitswesen der hiesigen Stadt muss für alle Reiseteilnehmer bestätigt werden, daß sie zum Zeitpunkt der Abreise gesund und läusefrei sind.«

Mit einem Feuerwehrauto und zwei Pkw sowie reichlich Fleisch- und Obstkonserven sowie Butter und Brot aus Militärbeständen erreichen sie am ersten Tag Jena. Vorbei an zerstörten Panzerfahrzeugen der Wehrmacht, die die Fahrbahn säumen, zwingen sie zerstörte Autobahnbrücken immer wieder zu weiten Umwegen. Bergab fahren sie im Leerlauf mit abgestelltem Motor, um Sprit zu sparen.

Unter den amerikanischen Kriegsfahrzeugen, denen sie auf der langen Fahrt begegnen, ist auch ein Jeep, auf dessen Windschutzscheibe die Worte stehen: »Alles kaputt«. In seinen Lebenserinnerungen notiert Schmidt später: »Alles kaputt? Ja, alles kaputt: die Häuser kaputt, die Wirtschaft kaputt, das Vermögen kaputt, die Kultur kaputt, die Menschen kaputt, die Familien kaputt, die Moral kaputt, das Gewissen kaputt, die Nazis kaputt, das Reich kaputt, Hitler kaputt, Mussolini kaputt, ich kaputt, nicht ganz kaputt - was bei mir kaputt ist, wird sich noch zeigen. Wenn ich Mutter nur unversehrt wiederfinde.«

Am nächsten Tag, bei Chemnitz, wechselt der kleine Konvoi in den russischen Sektor. Schmidt: »Wir sind jetzt abgeschnitten von unserer dürftigen Operationsbasis Gießen an der Lahn. Es ist eine Fahrt mit vielen Unbekannten und großen Risiken, eine Fahrt mit fraglichem Erfolg, eine Fahrt in unsicherster Zeit. Trotzdem müssen wir sie wagen.«

Ihr alter Auto-Atlas hilft in der sowjetischen Besatzungszone nur noch wenig, die Russen haben die meisten alten Straßenschilder durch neue mit kyrillischer Schrift ersetzt.

Am Abend des 26. Mai 1945 erreichen sie schließlich gegen 18 Uhr das Tor des Konzentrationslagers Theresienstadt. Nach einigem Hin und Her mit den russischen Lagerwachen dürfen sie passieren. Tschechische Medizinstudenten, die sich um die ehemaligen Gefangenen kümmern, gehen mit Schmidt die Lagerakten durch. Zunächst kontrollieren sie die Liste der seit Februar Verstorbenen. Schmidts Mutter ist nicht dabei. Auch unter den Erkrankten ist sie nicht zu finden. Dann die dritte Liste: »M, N, O, P, Q, R, S, ... Sch ... Schmidt, ... Schmidt, Johanna, geborene Fein, geboren 6. Dezember 1879 in Breslau.«

»Mutter lebt!

Ihr Sohn stürmt aus der Lagerregistratur. Später erinnert er sich: »Ich laufe eine Anlage entlang, in der friedliche Menschen spazieren gehen. Mutter lebt! Ich nehme einige Kinder in den Arm, die im Lager geboren wurden und drückte sie an mich. Sie schauen mich aus großen Kulleraugen an und halten mich bestimmt für verrückt. Mutter lebt! Dann stehe ich endlich vor dem Haus. Durch einen engen Gang gelange ich an eine schmale Tür und klopfe. ›Ja, wer ist da‹, höre ich Mutters Stimme. ›Werner.‹ ›Wer?‹ ›Werner, dein Werner‹. Die Tür wird geöffnet und ich halte meine 66-jährige Mutter in den Armen.«

Die Ankunft des Konvois hat sich im Lager mittlerweile wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Die Gießener sind die ersten Helfer, die aus Westdeutschland nach Theresienstadt gekommen sind. Sie finden noch 13 weitere Personen aus Gießen und Umgebung. Mit 18 Menschen geht es am 30. Mai gen Westen. Etwas später holt der spätere Chefarzt des Hanauer Krankenhauses noch weitere 23 Gießener Juden zurück nach Hause.

Weitere Berichte zum Kriegsende vor 80 Jahren lesen Sie auf den Seiten 26, 28 und 31.



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