. Die Tafel in Gießen feierte am Samstag ihr 20-jähriges Bestehen. Ist das ein Grund zur Freude oder doch eher Anlass zu Nachdenklichkeit? Seit 20 Jahren sammelt die Tafel in Gießen Lebensmittel aus umliegenden Supermärkten ein, die dort nicht mehr verkauft werden können. In den Räumen der Tafel werden die Lebensmittel dann sortiert und an bedürftige Menschen weiterverteilt.
Die Gießener Tafel unterstützt derzeit 1400 Haushalte, das sind 4800 Personen, davon 1400 Kinder. Die Nachfrage nach den Lebensmitteln der Tafel ist damit ungebrochen hoch.
Reaktion auf Hartz
2005 wurde die Gießener Tafel im Zuge der Hartz-IV-Reform gegründet. Damals gab es zwei Tage, an denen Lebensmittel ausgegeben wurden. Rund 60 Haushalte nahmen anfangs die Leistungen der Tafel wahr. In den folgenden Jahren entwickelte die Gießener Tafel ihr Angebot stetig weiter: 2008 kamen Zweigstellen in Reiskirchen und Linden dazu, 2009 in Lollar, 2010 in Pohlheim, 2013 in Allendorf/Lda.. Zudem rief die Gießener Tafel nach und nach spezielle Kinder- und Jugendprojekte ins Leben: So gibt es etwa das Projekt »Schulobstfrühstück«, bei dem die Tafel Obst und Gemüse an Grundschulen in Stadt und Landkreis Gießen liefert und so einen Beitrag zur gesunden Ernährung der Kinder leistet.
Unter dem Motto »Bye Bye Schwimmflügel« organisiert die Tafel Schwimmkurse für Kinder. Einschulungspatenschaften sollen auch Kindern aus ärmeren Verhältnissen eine prall gefüllte Schultüte und den Erhalt aller für den Schulanfang benötigten Materialien ermöglichen. Und an Weihnachten sorgt die Aktion »Weihnachts-Wunschzettel«, bei der Spender die Wünsche der Kinder in Gießener Geschäften auf Wunschzetteln lesen und unmittelbar erfüllen, für strahlende Augen.
Die Arbeit der Tafel wäre ohne das Engagement einiger hauptamtlicher und 326 ehrenamtlicher Mitarbeiter nicht möglich. Und diesen Mitarbeiter kommt an diesem sonnigen Samstagvormittag im Mai auch ein besonderer Dank zu. Mit einer Jubiläumsveranstaltung dankt die Tafel all ihren Unterstützern: Den eigenen Mitarbeitern, Vertretern kooperierender Lebensmittelmärkte, Unterstützern aus der heimischen Politik und allen Spendern.
»Das sind so viele, denen ich danken möchte, die kann ich gar nicht alle aufzählen«, meint Anna Conrad, Leiterin der Gießener Tafel. Auch Sigrid Unglaub, Leiterin der Regionalen Diakonie Gießen, unter dessen Trägerschaft die Tafel steht, dankt an diesem Tag für das Engagement aller Beteiligten. Nachdem sie die Entwicklung der Gießener Tafel geschildert hat, meint sie: »Krisen und Kriege sind immer zuerst an der Tafel spürbar.« So habe die Tafel etwa 2015 die Auswirkungen des Syrien-Krieges deutlich in der steigenden Nachfrage gespürt. Auch die Corona-Pandemie ab 2020 sei eine deutliche Herausforderung gewesen, mit einem gründlichen Hygienekonzept und einem Bringdienst für besonders gefährdete Empfänger habe man die Arbeit der Tafel jedoch fast pausenlos aufrechterhalten können.
Seit 2023 gibt es nun auch einen Sozialdienst der Tafel, der Hilfsbedürftigen beratend zur Seite steht. Und mit steigender Nachfrage nach den Angeboten der Tafel herrschte in den Liegenschaften in der Gießener Weststadt auch zunehmend Platzmangel: 2024 ist die Tafel daher in den Meisenbornweg umgezogen. Dies sei nur durch die Unterstützung von Oliver Kreiling, der das neue Gebäude erworben hat und nun an die Tafel vermietet und Daniel Beitlich, Geschäftsführer der Revikon GmbH, der die Tafel finanziell unterstützt, möglich gewesen.
Für die Zukunft plant die Gießener Tafel hier auch eine Kleiderkammer für Kinder und Jugendliche einzurichten.
Und ist das 20-jährige Bestehen nun ein Grund zur Freude oder nicht? Ja und nein, eine klare Antwort gebe es nicht, da waren sich die Grußwortsprecher einig.
Für das Hessische Ministerium für Arbeit, Integration, Jugend und Soziales sprach Katrin Hechler, als erster Kreisbeigeordneter des Landkreises Gießen ergriff Christopher Lipp das Wort. Ebenfalls sprachen Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher und Dekan André Witte-Karp. Alle dankten sie den ehrenamtlich und hauptamtlichen Engagierten. Dies sei ein Grund zur Freude, dass bei der Gießener Tafel Menschen zusammenkommen, gemeinsam Zeit verbringen, anderen Menschen helfen, Lebensmittel retten und damit auch die Umwelt ein wenig schonen.
Handlungsauftrag
Gleichzeitig sei es kein gutes Zeichen für die Gesellschaft, dass Einrichtungen wie die Tafel benötigt würden. Die Politik müsse hinschauen und unterstützen, wo es nötig sei. »Zwei Jahrzehnte praktische Solidarität« sei, was die Tafel auszeichne, so Oberbürgermeister Becher. Aber gleichzeitig müsse man von so einem Jubiläumstag eben auch den Handlungsauftrag mitnehmen, etwas zu ändern - damit Ehrenamt unterstützt wird, aber auch damit weniger Menschen überhaupt erst bedürftig werde.