»Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« Karl Marx
Gießen . Ob es ihm eines Tages selbst aufgefallen ist oder ob ihn seine Mitbürger darauf aufmerksam gemacht haben, ist nicht überliefert. Aber irgendwann in den Nachkriegsjahren muss dem arbeitslosen Krankenpfleger Heinrich Noll aus Gießen aufgefallen sein, dass er dem wohl bekanntesten, auf jeden Fall aber berüchtigsten, Deutschen aller Zeiten wie aus dem Gesicht geschnitten war. Der 1907 geborene Noll war zwar blond und etwas jünger als Adolf Hitler, aber mit gefärbten Haaren und Gasmaskenbärtchen hatte er auf den überlieferten Fotos eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit dem »Gröfaz«.
Nun sollte man meinen, dass so kurz nach dem Krieg, wo viele noch den echten Adolf in Südamerika oder der Antarktis, auf jeden Fall aber unter den Lebenden wähnten, solch eine Laune der Genetik doch gewisse Risiken mit sich bringt. Laut dem »Spiegel«, der damals fast im Wochentakt über den seinerzeit wohl berühmtesten Bürger unserer Stadt berichtete, sei Noll 1945 von den einrückenden Amerikanern beinahe verhaftet worden. Seine Frau habe sich deswegen auch scheiden lassen. Tja, wer will schon jeden Morgen als Erstes in das Gesicht des größten Menschheitsverbrechers schauen?
Im Großen und Ganzen muss Noll aber seine 15 Minuten Ruhm eher genossen haben. Sein Neffe Erich Noll erinnert sich Jahrzehnte später für »Spiegel TV«, dass im Seltersweg die meisten Passanten den Onkel gegrüßt hätten, mit deutschem Gruß versteht sich. Und auch die amerikanischen Soldaten in der Stadt hätten den »Führer von Gießen« gerne auf ein Bier eingeladen und sich dann mit ihm ablichten lassen. Später soll der Onkel in Gastwirtschaften und Tanzsälen aufgetreten sein. Dort habe er unter dem Gelächter der Zuschauer den Hitler gegeben und parodiert.
Traum von der großen Filmkarriere
Um 1950 herum muss Heinrich Noll der Gedanke gekommen sein, dass sich mit der frappierenden Ähnlichkeit doch mehr verdienen lassen müsse. Ihm war zu Ohren gekommen, dass der bekannte Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst einen Spielfilm über die letzten Tage im Führerbunker plante. Angeblich soll Noll durch die Vermittlung eines amerikanischen Generals schon Kontakt zur Kinowelt bekommen haben, doch hier endete der Siegeszug des Führer-Doppelgängers.
Die greifbar nahe Filmkarriere feierte der immer noch arbeitslose Vorstand des Boxvereins Gießen im Februar 1950 im damaligen SPD-Stammlokal »Pilsklause«. Der Leiter des US-Depots, Harry Spitz, lobte dann zehn Mark für den aus, der als Erster ein Wasserglas Steinhäger-Schnaps leerte.
Bei diesem Kampf erlebte Noll sein persönliches Stalingrad. Erst hätten ihn die Mitbewerber Otto Lehmann und Hans Robert unter den Tisch getrunken, dann sei Noll in der »[N-Wort]ecke des Lokals« verschwunden, so der Spiegel in seiner Ausgabe vom 6. Juni 1950. Dort sollen »[N-Wort]-Mädchen« sich an Nolls Haupthaar vergangen und ohne Erlaubnis Führerlocken als Souvenir abgeschnitten haben, was dieser anschließend auf der Straße lautstark beklagte.
Dummerweise brachte er damit Spitz, Robert und Lehmann erst auf dumme, aber antifaschistische Gedanken. Sie folgten Noll bis zu dessen Zimmerwirtin, Freundin und späteren Ehefrau in die Katharinengasse. Dort scherten sie nicht nur des Führer-Doubles Schopf und Bärtchen, sondern schlugen ihn auch noch grün und blau.
Damit war der Traum von der großen Filmkarriere geplatzt, auch wenn dem Kahlgeschorenen ein mitfühlender Schlammbeiser den Rat gab: »Probiersch doch jetzt emol als Duce.«
Doch Noll tanzte nicht den Mussolini, sondern weiterhin lieber den Adolf Hitler und kündigte Spitz und Co. die deutsch-amerikanische Freundschaft auf. Im Juni 1950, als das Führerbärtchen bereits wieder nachgewachsen war, zeigte er Spitz und seine Kumpanen wegen Körperverletzung, Beleidigung und Hausfriedensbruch an. Schließlich hatte er bei dem Überfall auch zwei Backenzähne eingebüßt.
Spätestens mit diesem Prozess erreichte Heinrich Noll den Gipfel seiner Bekanntheit. Dass »Adolf Hitler« auch einen US-Militär vor Gericht brachte, war Zeitungen rund um den Globus eine Meldung, manchmal sogar Sonderseiten, wert.
»Hitler double winds up in double trouble« kalauerte etwa die »Daily News« in New York, die in ihrer Sonntagsausgabe vom 26. November 1950 gleich sechs Fotos vom Kläger und den Schlägern im gerammelt vollen Gerichtssaal abdruckte. Aber auch die »Winnipeg Free Press« im kanadischen Manitoba, »Le Soleil« in Québec, die Monatszeitschrift der Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft »Droit et liberté« in Frankreich, das »Zeeuwsch Dagblad« in den Niederlanden, der »Belfast News-Letter«, das »Vorarlberger Volks-Blatt«, die »Innsbrucker Nachrichten«, die »Wiener Arbeiter Zeitung«, die »Rocky Mountain News« oder der »Daily Mercury« im australischen Illawarra berichteten. Und das ist nur eine Auswahl.
Auch eine deutsche Illustrierte widmete dem »Hitlerchen von Gießen« eine ganze Sonderseite, auf der »Adolf der Kahle« mit sichtlicher Häme übergossen, seine Angreifer jedoch als »Demokraten« und »Hitlergegner« gepriesen wurden. Damit folgte das Blatt dem Ratschlag des Richters Breuer, der in der Causa Noll versus Hitlergegner das Urteil sprach.
Breuer hatte Robert und Lehmann am Antsgericht zwar zu kurzen Haftstrafen und einer Schmerzensgeldzahlung verurteilt - »Hauptattentäter« Harry Spitz saß da schon in den USA im Gefängnis -, aber auch in seiner Urteilsverkündung gesagt: »Für viele Menschen ist es eine aufreizende Geschmacklosigkeit, sich in der Maske des Hitler auf öffentlichen Plätzen zu zeigen. Ein solches Verhalten ist eine Herausforderung in einem Augenblick, wo unzählige Menschen wegen dieses Mannes um ihre Angehörigen trauern. Aber dann soll man Noll nicht mit Raufmethoden kommen, sondern ihn der allgemeinen Lächerlichkeit preisgeben.«
Noll ging beim Landgericht in Berufung und verlor. Landgerichtsrat Dr. Götz hob die Haftstrafen auf und reduzierte das Schmerzensgeld. Zwar müsse Lynchjustiz unterbunden werden, doch habe Noll durch seine »Kinkerlitzchen« und sein törichtes und albernes Verhalten die Gemüter vieler Leute bewegt, ganz davon abgesehen, so Götz, dass er ein »ausgesprochener Faulenzer« sei.
»Aufreizende Geschmacklosigkeit«
Eine Zeitung freilich berichtet so gut wie gar nicht über Heinrich Noll. Im ganzen Jahrgang 1950 des Gießener Anzeigers findet sich nur eine briefmarkengroße Meldung, und die stammt nicht von einem eigenen Redakteur, sondern von der Nachrichtenagentur dpa.
Warum die älteste Zeitung der Stadt solch einen großen Bogen um eine Geschichte machte, die international für Schlagzeilen sorgte, ist nicht bekannt, doch eine Vermutung liegt nahe. Der Anzeiger, als durch sein Erscheinen im Dritten Reich vorbelastetes Blatt, hatte erst 1949 wieder eine Lizenz erhalten, während die Gießener Allgemeine als Nachkriegsneugründung bereits ab 1946 erschien. Ein Teil der Anzeiger-Redaktion, darunter auch Chefredakteur Dr. Friedrich Wilhelm Lange, hatte bereits vor 1933, von 1933 bis 1945 und dann wieder ab 1949 für den Anzeiger geschrieben. Gut möglich, dass man fünf Jahre nach dem Ende des »1000-jährigen Reiches« nicht an solche Kontinuitäten erinnern wollte und lieber einen Bogen um angebräunte Themen machte.
Heinrich Noll tauchte kurz nach dem Prozess wieder in die Anonymität ab. Im 1955 gedrehten Film »Der letzte Akt« spielte Albin Skoda den Führer im Bunker, auch wenn der dem Original längst nicht so ähnlich sah wie der Gießener. Noll selbst starb am 21. Dezember 1982 im Alter von 75 Jahren in seiner Heimatstadt.
Epilog
Auf die Geschichte von Heinrich Noll wurden wir durch eine Erwähnung in einer »Spiegel TV«-Reportage von 2010 aufmerksam. Dort war als Zeitzeuge Nolls Neffe Erich zu sehen. Erich Noll, in Gießen vielen noch als Zauberer »Riconelly« bekannt, wurde sechs Jahre später Opfer eines Gewaltverbrechens. Erich Noll wurde von seiner damaligen Nachbarin, der Serienmörderin Tuba S., erschlagen. Tuba S. wurde im Januar 2018 wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haft und - als eine von ganz wenigen Frauen - zu anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.