07. Mai 2025, 19:28 Uhr

Geschichte

Botschaften aus Auschwitz an die Gegenwart

Die Gießener Literaturwissenschaftler Sascha Feuchert und Aleksandra Bak- Zawalski legen einen Band mit Reden von KZ-Überlebenden vor.
07. Mai 2025, 19:28 Uhr
BJN
Die Auschwitz-Überlebende Halina Birenbaum bei der Gedenkfeier zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 2015. Auch ihre Rede ist in dem Sammelband enthalten. Fotos: dpa

. Zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wurde 1995 als prominentester Redner der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel von der polnischen Gedenkstätte eingeladen. Und was damals mit dem Friedensnobelpreisträger begann, entwickelte sich zu einer Form des Erinnerns, bei dem am 27. Januar bis heute jährlich Überlebende an diesen Schauplatz des Schreckens zurückkehren, um zur Öffentlichkeit zu sprechen. Was Prof. Sascha Feuchert, Literaturwissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität Gießen, auf die Idee brachte, diese Reden für ein Buch zu sammeln. Nun liegt das Werk mit dem Titel »Das Vermächtnis« vor. Es vermittelt einen intensiven, erschütternden Eindruck von den Nazi-Verbrechen. Und überrascht zugleich mit der nach vorne gerichteten Tonlage, in der viele der Redner vor künftigen Gefahren der Ausgrenzung, des Nationalismus und des Rassismus warnten.

Umfangreiche Recherche

Die selbstgestellte Aufgabe gestaltete sich allerdings schwieriger als zunächst gedacht. Feuchert und seine Co-Autorin Aleksandra Bak-Zawalski mussten feststellen, dass die Reden in Auschwitz nicht systematisch gesammelt und archiviert wurden. Also stieg vor allem die Gießener Doktorandin in die Archive, sammelte Zeitungsberichte sowie Audio-Tonspuren und nahm Kontakt mit Überlebenden auf, um das fehlende Material ans Licht der Öffentlichkeit zu holen. »Sie hat da wahre Kärrner-Arbeit vollbracht«, berichtet Feuchert. Der Band beginnt mit der Rede von Elie Wiesel im Jahr 1995 und endet mit der polnisch-israelischen Schriftstellerin Halina Birenbaum, die am 27. Januar 2024 bekannte: »Mit tiefer Ergriffenheit stehe ich heute hier vor Ihnen, an einem Ort, aus dem man nur als Rauch aus dem Schornstein entkommen konnte.« Im Laufe der Arbeit »haben wir gemerkt, was für unglaublich starke Reden da entstanden sind«, erzählt Feuchert. Tatsächlich bieten viele der Texte neben ihren klugen Reflexionen auch literarische Qualitäten. Zu den eingeladenen einstigen Auschwitz-Häftlingen zählten im Laufe der drei Jahrzehnte neben Wiesel einige weitere Schriftsteller, ebenso Schauspieler, Wissenschaftler oder internationale Würdenträger wie der ehemalige polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski (1922-2015) oder der im Februar gestorbene polnische Journalist und Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees Marian Turski.

Was viele dieser Zeitzeugenberichte eint, ist der bei aller Emotionalität häufig warme Ton, in dem sie erzählen. Und zugleich die Hellsichtigkeit, mit der vor aktuellen und künftigen Gefahren gewarnt wird. Feuchert befindet, dass es »vielen von uns im Jahr 1995 unmöglich schien, dass »totalitäre Ideen nach Europa zurückkehren würden. Wir haben uns in Sicherheit gewogen und hielten das für Geschichte.«

Doch in den Reden der Auschwitz-Überlebenden sei häufig zu spüren, dass all diese Verbrechen - auf andere Art - wieder passieren können. Damals habe das Publikum die Bedeutung der Reden ein Stück weit unterschätzt. »Heute sind wir angesichts des Recktsrucks und des zunehmenden Nationalismus überall auf der Welt deutlich wacher und sensibler für die Botschaften, die in diesen Texten stecken.«

Da stellt sich die Frage, ob die Redner angesichts ihrer Lebensgeschichte tatsächlich ein sensibleres Sensorium für die bedrohlichen Entwicklungen der Gegenwart entwickelt haben. Der langjährige Leiter der Gießener Arbeitsstelle Holocaustliteratur vermutet, dass sich bei den Auschwitz-Überlebenden grundsätzliche Traumata herausgebildet haben, die zu einer permanenten Angst führten. »Aber bei sehr, sehr vielen war angesichts ihrer Erfahrungen die Fähigkeit deutlich stärker präsent als bei uns, vorauszuahnen, was da kommen sollte.« Für Feuchert ist es deshalb gerade jetzt an der Zeit, ihren Reden noch einmal genauer zuzuhören.

Umso mehr, weil mittlerweile nur noch wenigen Menschen von dem Grauen im KZ berichten können. Marian Turski ist kurz nach der jüngsten Gedenkfeier im Februar verstorben. Leon Weintraub, für Feuchert einer der beeindruckendsten im Band vertretenen Redner, ist mittlerweile 99 Jahre alt »und noch fit, aber das kann sich natürlich jederzeit ändern«. Die Gedenkfeiern werde es aber auch künftig in Auschwitz geben, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt.

Feuchert und Bak-Zawalski planen nun bereits eine zweite Auflage ihres Buchs, die im kommenden Jahr erscheinen soll. Zumal sie bereits weitere wertvolle Hinweise bekommen haben, um die bestehenden Leerstellen zu vervollständigen. Auch die Biografien der hochbetagten Redner in diesem vorbildlich editierten und mit zahlreichen Quellenangaben versehenen Buch müssen dann aktualisiert werden.

Und was erwartet Feuchert von diesem Buch? »Im besten Fall, dass die darin enthaltenen Erfahrungen weiter transportiert werden und gesellschaftliche Richtschnur bleiben. Es ist allerdings eine sehr idealistische Hoffnung«, wie er gesteht. »Ich bin nicht naiv. Ein Buch verändert nicht die Welt. Aber die Texte sind nicht verloren gegangen. Das ist entscheidend.«

Ritualisierte Gedenkformen wie den Tag der Befreiung in Auschwitz hält er für unverzichtbar. »Die Rituale dürfen aber nicht erstarren, wir müssen ihnen zuarbeiten.« Dabei sieht der Literaturwissenschaftler vor allem die Schulen in der Verantwortung. Vor allem den Deutschunterricht. Denn es brauche Geschichten, die junge Leute berühren, die über Bilder hinausgehen. Wenn sich die nachfolgenden Generationen mit den Menschen dieser Zeit und ihren Schicksalen auseinandersetzen, sowie zugleich den Mechanismen, die dazu geführt haben, »dann machen Rituale Sinn«.

Mahnung eines Überlebenden

Feuchert erinnert an Marian Turski, der die nachfolgenden Generationen aufgefordert habe, sich nicht zu sorgen, dass die Zeitzeugen verschwinden«. »Ihr habt doch genug von uns. Macht was draus«, habe er gefordert. Nun müssten wir lernen, »mit diesen Hinterlassenschaften neu und richtig umzugehen«. Und genau dabei kann das Buch von Sascha Feuchert und Aleksandra Bak-Zawalski einen wertvollen Beitrag leisten.

Der Band »Das Vermächtnis - Reden von Überlebenden in Auschwitz« kann gegen eine Spende an den Förderverein der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Höhe von 20 Euro unter der Mailadresse Sekretariat.AHL@ uni-giessen.de bestellt werden.



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