Sven Schepp, dessen eigenes Haus im Grünberger Stadtteil Harbach von Georg Jäger entworfen wurde, entdeckte im Zuge seiner Recherchen zur Baugeschichte des Hauses den unveröffentlichten zeichnerischen Nachlass des Baumeisters und Architekten.
Die Auswertung von rund 400 Studien, Skizzen und Bauplänen aus der Zeit von 1909 bis 1938 ermöglicht ihm die Darstellung einer besonderen Lebensskizze.
Vita des Architekten
Georg Wilhelm Jäger (1888-1977) wurde von Kindesbeinen an mit den Handwerks- und Betriebsabläufen des väterlichen Bau- und Maurerbetriebes in Queckborn vertraut gemacht. Um 1910 wurde ihm ermöglicht, an der Landesbaugewerkschule in Darmstadt sowie in München zu studieren. Die Landesbaugewerkschule war die zentrale Fortbildungsstätte für das Bauwesen in Hessen.
Als Naturliebhaber war er zudem in der Wandervogelbewegung aktiv. Bei der Internationalen Baufachausstellung in Leipzig (IBA), die 1913 als bis dahin weltweit größte Leistungsschau dieser Art stattfand, wurde ihm der 1. Preis der »Sonderausstellung Landwirtschaft« zuerkannt. Seine dafür eingereichte Arbeit war ein im Heimatschutzstil (einer Strömung des damals modernen Reformstils) entworfenes Doppelwohnhaus für landwirtschaftliche Arbeiter. Im selben Jahr entwarf Jäger im gleichen Stil das heute noch in Queckborn erhaltene und unter Denkmalschutz stehende elterliche Wohnhaus.
Bauten in der Region
1918 übernahm er in Queckborn den Baubetrieb seiner Familie. Örtliche Schwerpunkte von Jägers Arbeiten lagen im Raum Grünberg, einzelne Bauten entstanden in Lich, Hungen und im Landkreis Gießen. Ferner sind Anwesen in der Stadt Gießen, der Schwalm, der Wetterau und im Raum Bergstraße nachweisbar. Jäger baute für Privatleute, für öffentliche Bauträger und für die Kirchengemeinden Ettingshausen und Langsdorf. Jägers gezeichnete Entwürfe beeindrucken auch heute noch und richteten sich an Auftraggeber aller Gesellschaftsschichten.
Eine Besonderheit stellen im Nachlass die Pläne und Skizzen der unterschiedlichen Denkmäler für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges dar, die zwischen 1921 und 1923 entstanden und in den Orten Gambach, Röthges, Queckborn und Harbach errichtet wurden. In den architektonisch spannenden 1920er-Jahren war Jäger stilistisch am Puls der Zeit. So errichtete er expressionistisch anmutende Reformstilbauten und zog 1926 mit dem »Haus Oswald« in Grünberg ein noch gewagteres Register. Er baute ein strahlend weißes Wohnhaus als kubischen Quader mit stufenförmigem Flachdach nach den Grundsätzen der »Neuen Sachlichkeit«, gewissermaßen als »architektonische Komplementärfarbe« zu Grünbergs Fachwerkbauten. Schepp sieht darin eine kleine Sensation, gemessen an den damals provinziellen Verhältnissen in Oberhessen.
Verfolgung im Nationalsozialismus
Schepp erläuterte, dass für Jäger in der Zeit des Nationalsozialismus öffentliche Aufträge zunehmend ausblieben und private Auftraggeber unter Druck gesetzt wurden. Der Grund lag darin, dass Jägers Ehefrau Jüdin war. Die Familie zog sich daher weitgehend aus dem öffentlichen Raum zurück und so kämpfte auch die Firma wirtschaftlich ums Überleben. In ihrer Verzweiflung entschloss sich die Familie zu Beginn des Krieges zur räumlichen Trennung. Jäger und seine beiden erwachsenen Kinder hielten sich in Österreich als Maurer über Wasser, letztere mussten später sogar vor der Gestapo (Geheime Staatspolizei) fliehen. Seine Ehefrau verblieb in Queckborn, da Reisegenehmigungen die riskante Aufmerksamkeit der Gestapo geweckt hätten.
Cornelia Jäger wurde in ihrer gefährlichen Lage vom örtlichen Bürgermeister unterstützt, der ihr beispielsweise volle Lebensmittelrationen gewährte. Zudem hielt der Leiter des Gendarmeriepostens Grünberg eine schützende Hand über sie, indem er offenbar Meldungen an die Gestapo verschleierte und Anzeigen und Denunziationen, die auf seinem Schreibtisch landeten, ignorierte. Anfang 1945 konnten die örtlichen Schutzmechanismen schließlich dem Druck des Regimes nicht mehr standhalten und Cornelia Jäger, geborene Jacoby, wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Sie überlebte das KZ zwar und konnte nach dem Krieg nach Queckborn zurückkehren, doch bis zu ihrem Tod 1954 erholte sie sich offenbar nicht mehr von ihren körperlichen und seelischen Wunden. Georg Jäger wurde von den US-Streitkräften 1945/46 zunächst als Bürgermeister von Queckborn eingesetzt. Parallel lief auch das Baugeschäft, in das nun auch Sohn Hermann einstieg, wieder an.
Vermächtnis Jägers
1953 schied Georg Jäger aus Altersgründen aus der Firma. Damit wurde auch das Baugeschäft aufgegeben - Sohn Hermann konzentrierte sich auf die Holzverarbeitung. Die Unternehmensgruppe »Jäger-Treppen« sollte in den 1970er-Jahren einer der größten Arbeitgeber der Region werden und bundesweit rund 1.200 Mitarbeiter beschäftigen. 1990 ging die Firma, zwischenzeitlich von Jägers Enkel geführt, zur Bestürzung vieler Menschen in der Region in die Insolvenz.
In Jägers Entwürfen spiegeln sich die für seine Epoche typischen und gleichzeitig übergreifenden architektonischen Elemente des Jugendstils, primär des Reformstils, aber auch avantgardistische Bauten sowie solche der klassischen Moderne wider. Viele seiner Häuser stehen heute noch und mögen vor dem Hintergrund von Jägers Biografie und Gesamtwerk eine neuerliche Betrachtung und Wertschätzung im Sinne des Denkmalschutzes verdienen.