07. Januar 2020, 13:00 Uhr

Gladenbach

Wenn alles schläft und einer austrägt

Im Herbst 2019 wurde das Sonntag-Morgenmagazin 40 Jahre alt. Hubert Zintl aus Mornshausen erinnert sich an seine Zeit als Austräger.
07. Januar 2020, 13:00 Uhr
Eine Zustellungs-Nacht, die Hubert Zintl wohl nie vergessen wird. Foto: privat

Seine unterhaltsame Geschichte hat er unter dem Titel »Aus dem Tagebuch eines Zeitungsboten« verfasst.

»Mich mit dem Sonntag-Morgenmagazin näher zu befassen, begann an dem Tag, an dem ich im E-Kauf in Gladenbach-Weidenhausen in einer Anzeige lesen konnte, dass dringend Helfer gesucht würden, diese Wochenendzeitung an Leser zu verteilen. Die Möglichkeit, mein Taschengeld für meine noch ausstehenden Reisen aufzubessern, kam dabei gerade recht«, berichtet Zintl.

Und das ging schneller als gedacht, denn bereits an einem der Adventssamstage 2014 lagen 235 Exemplare vor seiner Garage. »Früher hatte ich mir vorgestellt, wie Zeitungsausträger es Tag für Tag jede Woche schafften, ihren Lebensunterhalt damit zu bestreiten, den Kunden die Tageszeitung rechtzeitig auf dem Frühstückstisch bereitzulegen. Und nun war ich (damals 71) einer von ihnen«, sagt Zintl.

Sportliche Betätigung in jeder Woche

Sein Betätigungsfeld war eng mit seinem Wohnsitz verbunden - ob Sommer oder Winter. Jeden Samstag zwischen 22 und 3 Uhr am Sonntagmorgen war Schwitzen angesagt. Die Gebühren für ein Fitnessstudio konnte sich Hubert Zintl sparen. »So anstrengend die fünf Stunden auch waren, ich konnte Gladenbach bei Nacht so intensiv erleben, wie es nur wenigen vergönnt ist. Dabei ist einiges Kurioses vorgekommen: viele stockfinstere Wege, auf denen mir auch schon mal ein stattlicher Rehbock mit seiner Ricke den Zugang zu einem Grundstück streitig machte, oder klirrend kalte Nächte, viele sternenklare Himmelaussichten oder auch Familie Ziegenbein, die mir zur Weihnachtszeit den steilen und verschneiten Weg zu ihrem Haus mit Original Lebkuchen aus Nürnberg versüßten.«

Ein ganz besonderer Kirschenmarkt

Das doch außergewöhnlichste Ereignis waren zwei Studentinnen, die Hubert Zintl auserkoren hatten, eine Nacht zu einer ganz besonderen zu machen, die sich bis heute in sein Gedächtnis gebrannt hat. »Es war die Nacht von Samstag auf Sonntag des Kirschenmarkts 2015. Hier begegnet man als Besucher nicht nur der Polizei, Security-Leuten, Betrunkenen, sondern eben auch Zeitungsausträgern. Mein mit dem Sonntag-Morgenmagazin vollgepacktes Auto hatte ich beim ›Goldenen Hirschen‹ geparkt und ich wollte gerade die Briefkästen in der Burgstraße anlaufen, da versperrte mir eine junge Dame (21 Jahre) den Weg: ›Bitte, kommen Sie schnell, mein Auto springt nicht an. Können sie uns helfen?‹ Wenn Not am Mann oder Frau ist, bleibt mir meist wenig Zeit, lange zu überlegen - die Antwort eines jeden Pfadfinders ist dann eben ›Ja, ich muss nur schnell mein Auto holen‹.«

Ein Mann, ein Wort

Das Auto der Hilfesuchenden stand in der Einfahrt der »Schönen Aussicht« und während Zintl zum Auto spurtete, dachte er kurz: »Was heißt hier eigentlich ›uns‹? Wer braucht denn noch meine Hilfe, mitten in der Nacht in einer schlecht erleuchteten Straße?«. Da Hubert Zintl nunmal zugesagt hatte und die pure Verzweiflung der Dame erkannte, hielt er sein Wort. Neben dem nicht fahrbereiten Auto mit offener Motorhaube stand eine zweite junge Dame - ebenfalls etwa 21 Jahre alt.

Das Starthilfekabel war schnell gefunden. »Mit dem Kabel in der Hand wurde mir schlagartig klar, dass ich dieses letztmalig vor 20 Jahren genutzt hatte. Ich musste kurz überlegen: ›Plus zu Plus, Minus zu Minus - aber in welcher Reihenfolge?‹ Mein Zögern blieb den beiden Damen nicht verborgen. Eine munterte mich auf: ›Sie hat der Himmel geschickt‹, die andere zeigte offen ihre Zweifel an einem Erfolg: ›Oh Gott, oh Gott‹, entfuhr es ihr«, so Zintl.

Ein Helfer in Not

»Ich stand da, wie der Ochs vorm Berg. Erster Schritt: schwarze Minus-Klemme an das Empfängerauto - zweiter Schritt: das andere Ende an das Spenderauto - toll! - nichts passierte. Also: rote Klemme an Spenderauto - aber wo wird die Klemme beim Gegenüber befestigt? Ich kannte die Automarke, aber dieser Renault hatte einfach keine sichtbaren Nippel.«

Zintl erinnerte sich an das Wörtchen »Masse«, aber er wusste beim besten Wissen nicht mehr, ob er das Kabel einfach irgendwo anklemmen konnte, etwa am Motorblock? »Um die jungen Damen nicht noch mehr zu verwirren, verwickelte ich sie in Smalltalk: ›Woher kommt Ihr denn?‹ Die Antwort sprudelte synchron aus beiden heraus: ›Ich studiere in Marburg.‹ ›Und ich in Unna.‹ ›Da muss meine Freundin morgen wieder sein.‹ Das Gespräch brachte mich in meinem Entschluss, endlich den Renault zum Laufen zu bringen, keinen Schritt weiter - im Gegenteil: Während sich meine Schweißperlen am ganzen Körper verdoppelt hatten, ließ ich leider den Satz los: ›Es kam schon vor, dass Batterien explodierten, wenn man was falsch anschließt …‹«, erinnert sich Zintl.

Das Falsche gesagt

Ein fünffaches »Oh Gott, oh Gott!« entfuhr spontan der Studentin aus Marburg, während die Freundin versuchte, Hubert Zintl Mut zu machen: »Sie schaffen das! Wenn unser Motor läuft, bekommen Sie von mir einen dicken Kuss!«

Sein Ehrgeiz stieg dadurch natürlich ins Unermessliche. Aber die Chance, dass etwas schief gehen könnte, ließ seinen Mut direkt wieder auf ein Minimum sinken. »Innerlich flehte ich darum, es möge irgendwoher Hilfe kommen. Doch von den Gestalten, die nachts vom Kirschenmarkt nach Hause torkelten, war noch weniger Hilfe zu erwarten als von mir«, zögerte Zintl. Und er gab die ehrliche Antwort: »Leider muss ich auf das großzügige Angebot verzichten - Ich trau’ mich nicht, das Kabel anzuschließen.«

Die Gebete wurden erhört

Das stakkatoartige »Oh Gott, oh Gott!« der Marburgerin wurde von einem »Ich vertraue Ihnen! Sie schaffen das!« der Studentin aus Unna übertönt. »In diesem Moment sah ich auf der Straße einen Lieferwagen in einer Hofeinfahrt parken. Ich drückte der Dame neben mir das Kabel in die Hand und stolperte bergauf zu einem jungen Mann: ›Sie schickt der Himmel‹. Der Fahrer hatte die Situation schon richtig eingeschätzt. Ohne abzuwarten, schritt er auf die Autos zu, checkte die Lage und gab klare Kommandos: ›Sie setzen sich ans Steuer und Sie setzen sich in Ihr Auto! Gang raus! Bei ›Los‹ starten sie kurz den Motor! Fertig?‹«

Zintl berichtete, dass dann alles ganz schnell ging: Der Helfer tauchte die Klemme in den Motorraum und sagt kurz »Los!«. Hubert Zintl startete und der Motor des Renault erwachte aus dem Tiefschlaf. »Mit ein paar Handgriffen trennte der Mann die beiden Autos von der Nabelschnur, reichte mir das Kabel und verschwand in der Dunkelheit. Die beiden Damen waren überglücklich und ich wollte mich verabschieden - hatte schließlich noch ein paar Zeitungen auszutragen - da kam die blonde junge Dame aus Unna auf mich zu und ohne Rücksicht auf meine durchschwitzte Sommerkleidung drückte sie mich fest an sich und bedankte sich überschwänglich mit insgesamt drei Küssen auf die von mir vorgesehene Stelle«, sagt Hubert Zintl.

Die 50 Jahre Altersunterschied spielten dabei nicht die geringste Rolle und Zintl dachte für sich: »Wenn die heutige Jugend so herzhaft zupackt, dann ist mir um die Zukunft Deutschlands nicht bange.« Beschwingt von diesem Erlebnis war der Rest des Austrageweges bis zum höchsten Punkt am Tannenhof ein leichter. »Wie der sanfte Anstieg auf einer endlosen Rolltreppe. Diese besondere Nacht im Dienste des Sonntag-Morgenmagazins werde ich nie vergessen. Die ›Schöne Aussicht‹ hat hier definitiv gehalten, was sie verspricht«, erzählt Hubert Zintl augenzwinkernd.

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