. »Prostitution ist der größte Gegner der Gleichberechtigung von Mann und Frau«, zitierte Amrei Schommers den schwedischen Soziologen Simon Häggström im Gießener DGB-Haus. In Kooperation mit der DGB-Jugend Mittelhessen hatte Sisters e.V. zu einem Vortrag mit anschließender Diskussionsrunde über »Prostitution - Ausbeutung oder Selbstbestimmung?« geladen. Alle drei Referentinnen - Schommers, Sozialarbeiterin Emilia Illion und Jugend- und Flüchtlingshelferin Sima Scherneck - sind Mitglieder von Sisters e.V. und lieferten aus dieser Perspektive ein eindringliches Bild von Versäumnissen und Handlungsmöglichkeiten.
Anerkannter Beruf
Bereits seit über 20 Jahren gilt Prostitution in Deutschland als anerkannter Beruf - doch die Praxis offenbart eklatante Lücken. Während offiziell rund 2300 Betriebe eingetragen sind, schätzen Expertinnen die Zahl der tatsächlich Arbeitenden auf 200 000 bis 400 000. Nur knapp 30 000 davon haben sich nach dem Prostitutionsgesetz angemeldet, weniger als 100 sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 96 Prozent der Betroffenen sind Frauen, etwa 80 Prozent nicht deutschstämmig, was die enge Verflechtung mit grenzüberschreitendem Menschenhandel verdeutlicht.
Emilia Illion schilderte die persönliche Seite dieser Statistik: Drei Viertel der Sexarbeiterinnen haben bereits Obdachlosigkeit erlebt, fast zwei Drittel berichten von sexuellem Missbrauch in der Kindheit und 73 Prozent wurden schon Opfer von Übergriffen durch Sexkäufer. Rund eine Million Männer kaufen hierzulande täglich Sex und das Gewerbe erzielt einen Jahresumsatz von mindestens 15 Milliarden Euro. Viele Frauen seien verschuldet - häufig müssten sie sich »freikaufen«, um aus ausbeuterischen Strukturen herauszukommen. Zudem wenden Täter laut Illion immer wieder gezielt Zwangs- und Manipulationsmethoden an: Sie locken Betroffene mit Scheinversprechen auf Familienzusammenführung oder finanzielle Hilfe, isolieren sie von ihrem sozialen Umfeld und üben Druck durch Drohungen aus, um sie in der Abhängigkeit zu halten.
Den als »Jedermann-Hypothese« bekannten Umstand, dass Freier keineswegs nur aus prekären sozialen Verhältnissen stammen, erläuterte Sima Scherneck: »Die Freier kommen aus allen Altersstufen und jedem Einkommensniveau. Über die Hälfte sind verheiratet und fast 40 Prozent glauben, nach Bezahlung sei alles erlaubt.« Viele hätten bereits Menschenhandel oder Zuhälterei beobachtet, doch Sanktionen blieben selten.
Ausstiegshilfe
Eine Studie besagt, dass rund 80 Prozent der Käufer von einem Verbot oder einer öffentlichen Meldung abgeschreckt würden. Angesichts dieser Situation engagiert sich der Verein Sisters nicht nur in Öffentlichkeitsarbeit und politischer Vernetzung, sondern leistet konkrete Ausstiegshilfe: Sprachkurse, Jobvermittlung und psychosoziale Betreuung sollen den Frauen neue Perspektiven eröffnen. »Da, wo der Staat versagt, springen wir ein und versuchen zu helfen«, fasste Schommers zusammen.
Weitere Impulse liefert ein Blick ins benachbarte Europa: Während in Spanien und Portugal der Abolitionismus greift und in Kroatien ein vollständiges Verbot gilt, setzt man in Schweden, Norwegen und Frankreich auf das Nordische Modell. Seit 1999 senkte Schweden damit die Straßenprostitution um 60 Prozent, die Zahl der Freier um 92 Prozent und die Gesamtzahl der Sexarbeiterinnen um zwei Drittel - getragen von breiter gesellschaftlicher Zustimmung. Ob Deutschland sich diesem Beispiel anschließt, bleibt offen. Erste Signale aus CDU/CSU deuten auf eine Reformdebatte im Bundestag hin.
Gesetz überholt
Zum Abschluss appellierten die Referentinnen unisono: Prostitution dürfe nicht länger ein Tabuthema bleiben, sondern müsse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Politik und Medien seien ebenso gefordert wie die Zivilgesellschaft, Aufklärung und Transparenz zu schaffen. Zugleich sei das deutsche Prostitutionsgesetz überholt und liefere keine tragfähigen Lösungen - eine Umstellung auf das Nordische Modell sei daher längst überfällig. Solange Nachfrage unbestraft bleibt und staatliche Hilfen hinter dem Bedarf zurückbleiben, bleibt Prostitution in Deutschland ein Terrain, auf dem Selbstbestimmung für viele nur ein Schlagwort ist.