. »Er stand vor dem Tor des Gefängnisses und war frei. (...) Der schreckliche Augenblick war gekommen, (...) die vier Jahre waren um. (...) Man setzte ihn wieder aus. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt.«
So beginnt Alfred Döblins berühmter Roman »Berlin Alexanderplatz von 1929 über einen einfachen Mann, der nach seiner Haftentlassung vergeblich versucht, wieder auf bürgerliche Beine zu kommen.
In den Haftanstalten geht es heute weit humaner zu als zu Döblins Zeiten, aber auch heute noch fallen viele ehemalige Strafgefangene in ein tiefes Loch, wenn sich das Gefängnistor nach Jahren wieder öffnet. Um das zu verhindern, hat sich vor 42 Jahren der »Verein VES - Sozialpädagogisches Wohnen« gegründet, und das wird an diesem Mittwoch am Vereinssitz in der Dammstraße 39 groß gefeiert.
Dieser 7. Mai ist aber nicht nur ein Tag der Freude, sondern auch des Abschieds. Einer, der von Anfang an dabei war, geht dann in den definitiv wohlverdienten Ruhestand. Arnhold Schuh hat den VES mitgegründet. Am 7. Mai wird er den Vorsitz beim »Ü-40 Vereinsjubiläum« an seine Nachfolgerin Annette Geldmacher übergeben.
Nachfrage ist groß
Seit 1983 ist der Verein, der damals noch »Verein zur Eingliederung von Straffälligen« hieß, aktiv und unterstützt straffällig gewordene Männer nach dem Ende ihrer Haft bei der Wiedereingliederung ins Leben.
Er bietet in seinen sechs Wohnungen in der Dammstraße und in Pohlheim aber auch betreutes Wohnen für Menschen in sozialen Notlagen oder mit einer seelischen Behinderung an, sowie seit dem verstärkten Zuzug von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in den vergangenen zehn Jahren seit 2004 auch Plätze für die stationäre und ambulante Jugendhilfe. Und die Nachfrage ist groß. Fast alle Plätze des Vereins sind derzeit belegt.
Welchen Respekt der 66-Jährige bei den Bewohnern genießt, zeigt sich an Kleinigkeiten. Ein Bewohner, der zum Beratungsgespräch möchte, bleibt in der Tür stehen, obwohl man ihm Platz macht, und das hat einen Grund: »Der Herr Schuh hat mich ja noch nicht hereingebeten«. Keine Frage: Schuh besitzt das, was man heute auf Neudeutsch »Street Credibility« nennt. »Nicht reden, sondern machen«, würde Schuh das nennen. Er hat immer mit angepackt, wenn es beim VES Arbeit gab, und damit hat er sich bei den Bewohnern Glaubwürdigkeit verschafft.
Und zu tun gab es viel in vier Jahrzehnten. Angefangen hatte alles in einer besseren Holzbaracke im Alten Steinbacher Weg. Aufgrund der großen Nachfrage erweiterte der Verein seine Platzzahl 1989 durch die Anmietung eines weiteren Hauses in Lich.
Ein wichtiges Jahr in der Vereinsgeschichte war 1991. Das Haus in Lich musste nach nur zwei Jahren aufgegeben werden, doch der VES hatte Glück. Das bereits durch gemietete Wohnungen genutzte Haus in der Dammstraße 39 stand zum Verkauf, und obwohl ein damals stadtbekannter Investor mehr geboten hatte, entschieden sich die Eigentümer für den Verein, weil ihnen dessen Engagement zusagte und sie dieses unterstützen wollten.
Nach der Renovierung konnte das ganze Haus ab 1995 genutzt werden. Weil die Nachfrage aber immer größer war als das Angebot, erwarb man 1999 einen Anbau zur Nutzung freizeitpädagogischer und ergotherapeutischer Angebote. 2004 wurde dieser Anbau umgestaltet, um neue Wohn- und freizeitpädagogische Nutzungsräume zu schaffen. Drei Jahre später wurde der Anbau schließlich um zwei weitere Etagen aufgestockt und die so entstandenen beiden neuen Wohnungen in Eigenleistung ausgebaut.
Zur gleichen Zeit wurde auch das Haupthaus in der Dammstraße saniert. Ein Jahr später wurde der so entstandene Wohnbereich zum 25-jährigen Vereinsbestehen offiziell eingeweiht. Gleichzeitig wurde das in die Jahre gekommene Holzhaus am Gießener Stadtrand aufgelöst.
2014 wurde das Hilfsangebot des Vereins um eine ambulante Jugendhilfe für junge Männer und Frauen im Alter von 14 bis 27 Jahren erweitert.
Der bislang letzte große Schritt in der Vereingeschichte war der Erwerb eines weiteren Hauses in Watzenborn-Steinberg, das ebenfalls in Eigenleistung saniert und renoviert wurde. Damit verfügt der VES jetzt über 17 Wohnplätze, von denen derzeit 15 belegt sind.
In all den Jahren konnte Schuh sein handwerkliches Geschick einbringen. Ob beim Mauern oder Schreinern, ob bei den Sanitärarbeiten oder bei der Elektrik, der gebürtige Kaiserslauterner, der fast sein ganzes Leben in Gießen zugebracht hat, war immer mit dabei und hatte oft den zündenden Einfall.
Bauen, was bleibt
Nachdem er beispielsweise erfahren hatte, dass Berufsschüler in ihrer Ausbildung Mauern errichten mussten, die anschließend wieder eingerissen wurden, gewann er diese mit dem Satz: »Wollt Ihr mal was bauen, das bleibt?« für seinen Verein.
Sowohl Schuh als auch seine Nachfolgerin Annette Geldmacher betonen im Gespräch, dass es sich beim Angebot des VES nicht um ein betreutes Wohnen handelt. Im Verein steht die Hilfe zur Selbsthilfe an oberster Stelle. Jeder, der einen Platz zugewiesen bekommen hat, kann hier solange bleiben wie nötig, sollte aber auch nicht länger bleiben. Die jeweilige Verweildauer ist dabei ganz unterschiedlich und reicht von einigen Wochen bis hin zu mehreren Jahren.
»Ich habe immer versucht, den Menschen klarzumachen, was sie eigentlich wollen«, bilanziert Schuh. »Wollen sie ihr Leben von anderen leben lassen oder wollen sie ihr eigenes Leben leben?«
Dass er selbst es im Ruhestand geruhsamer angehen lassen wird, steht kaum zu befürchten. Auf dem alten Bauernhof an der Nordsee, den Schuh sich als Alterssitz ausgesucht hat, gibt es sicherlich noch genug zu schrauben, sägen oder hämmern.
Dass der Verein sich mittlerweile ausschließlich um männliche ehemalige Straffällige kümmert, ist übrigens weder Diskriminierung noch der Tatsache geschuldet, dass der größte Teil der Straftäter männlich ist. Die Erfahrung habe gezeigt, dass das Zusammenleben vieler Männer und weniger Frauen konfliktträchtig sein könne, sagt Schuh. Und die Abwesenheit des anderen Geschlechts mag für den einen oder anderen ja auch ein Ansporn sein, möglichst schnell wieder auf eigenen Beinen zu stehen.