14. Mai 2025, 20:51 Uhr

Geschichte

Die verrückten sieben Tage

Historiker Jörg Baberowski legt ein packendes Buch über den Untergang des alten Russland im Jahr 1917 vor.
14. Mai 2025, 20:51 Uhr
BJN
Die letzte Familie ihrer Art: Zar Nikolaus II. mit seiner Frau Alexandra Fjodorowna (l) und seinen Kindern Marija, Tatjana, Olga und Anastassija sowie (vorn) Alexej. Foto: Itar-Tass, dpa

Es gibt diese seltenen Momente, in denen die Weltgeschichte diese oder jene Richtung einschlagen kann. Und in der Rückschau wird deutlich: Mit ihren Entscheidungen stellen einige wenige Menschen, bewusst oder unbewusst, die Weichen für die Zukunft - so wie in der Februarrevolution 1917. Davon erzählt der Historiker Jörg Baberowski in seinem beeindruckenden neuen Buch »Die letzte Fahrt des Zaren - Als das alte Russland unterging«.

Dabei konzentriert sich der seit 2002 als Professor für Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Autor vor allem auf wenige Tage des Geschehens. Denn nicht die berühmte Oktoberrevolution der Bolschewiki war ursächlich für den Sturz des Monarchen, sondern bereits ein Gewaltausbruch wenige Monate zuvor. Zur Erinnerung: Das Land befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits sei drei Jahren im (Welt-) Krieg mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, die Armee war ausgezehrt, das Land erschöpft. Doch die Eliten in der Hauptstadt Petrograd (heute: St. Petersburg) kümmerte das alles nicht weiter. Was sich vor den großen Fenstern ihrer Paläste abspielte war ein Aufstand des Pöbels wie andere zuvor, so nahmen sie es zumindest wahr.

Baberowski beschreibt nun die »sieben verrückten Tage« im Februar so spannend wie einen Thriller. Denn er trägt nicht nur die Fakten und Ereignisse zusammen, sondern schlüpft auch in die Köpfe der handelnden Personen. »Ich habe gelernt, dass man sich nichts vergibt, wenn man versucht, die Welt mit den Augen der Menschen zu sehen, deren Auffassung man nicht teilt«, schreibt er im Vorwort. Und fächert fortan ein weites Spektrum schillernder Charaktere auf: vom skrupulösen Zauderer über den abgehobenen Bohemien bis zum opportunistischen Karrieristen - es sind Figuren wie aus einem Shakespeare-Drama, die sich nun die russische Welt-Bühne teilen.

Was Zar Nikolaus zu diesem Zeitpunkt in seiner Residenz abseits der Metropole nicht kommen sieht: Dieser Aufstand hat zwar keine Führung, aber dennoch eine neue Qualität. Und er profitiert von einem großen strategischen Fehler: Die Soldaten der Etappe wurden zu Tausenden in Hauptstadt-Garnisonen zusammengezogen. Und diese weigern sich nun, sich an der Front verheizen zu lassen. Stattdessen gehen sie schwer bewaffnet auf die Barrikaden. Und »Soldaten, die sich dem Befehl widersetzen, haben nichts mehr zu verlieren.«

Zudem erweist sich die politische Führung als ein Haufen überforderter Dilettanten, allen voran der skurrile Innenminister Protopopow, der inmitten des Aufstand seelenruhig abendliche Diners besucht. Zu unvorstellbar scheint ihm, dass sich der Gewaltausbruch gegen die unantastbare Herrscherkaste richten würde.

Parlament erweist sich als zahnlos

Das Buch entwickelt nun auch deshalb enorme Spannung, weil der Autor die zunehmend außer Kontrolle geratende Situation wie ein Experiment betrachtet, in dem den Handlungsträgern verschiedene Optionen offenstehen. Ein wichtiger Schauplatz ist dabei das Parlament, in dem Sozialisten und Liberale den Ton angeben. Agitierten sie bis dahin schneidig-aggressiv gegen Zar und Regierung, so stellen sie nun fest, dass ihnen die Revolution reichlich ungelegen kommt. Doch »man muss die Macht wollen«, wie Baberowski schreibt. Diese Parlamentarier wollen aber vor allem ihre Privilegien retten.

Und dennoch ergaben sich, wie der Historiker aufzeigt, in diesen chaotischen Tagen immer wieder Möglichkeiten, den Revolutionären entgegenzutreten und damit das Blatt zu wenden. Nach dem Abgang des zaudernden Zars gab es einen Moment, in dem das Land in eine andere Richtung hätte wechseln können. Doch »das demokratische Experiment verpuffte«. Und man fragt sich, wie das Russland von heute wohl aussähe, wenn Sozialisten und Liberale mehr Ausdauer bewiesen und nicht Lenin und den Bolschewiki das Feld überlassen hätten. Doch das ist ein Thema für ein anderes Buch.

Jörg Baberowski: Die letzte Fahrt des Zaren. Als das alte Russland unterging. 380 Seiten. 28 Euro. C.H. Beck.



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