Ich war nie ein begeisterter Wähler und wählte immer mit der berühmten geballten Faust in der Tasche. 1969, das Jahr, in dem ich Abitur machte, durfte ich noch nicht wählen. Aber wir besuchten dennoch Wahlveranstaltungen. Ich erinnere mich an ein völlig überfülltes Zelt auf dem Messeplatz, in dem Willy Brandt auftrat. Wir kamen nicht mehr rein, konnten aber dennoch, vor dem Eingang stehend, seine rauchige Stimme hören.
Die letzte Zeit in der Schule saß ich neben Michael, der im »Aktionszentrum unabhängiger sozialistischer Schüler« (AUSS) war und dem im September 1969 der Chef des Sicherheitsdienstes der NPD Klaus Kolley bei einer Demonstration gegen den Auftritt des NPD-Vorsitzenden von Thadden in Kassel eine Kugel durch den Arm geschossen hatte. Michael »agitierte« mich in den Pausen und während der langweiligen Stunden und versorgte mich mit Flugblättern. Über ihn bezog ich mein erstes politisches Buch, das »Sexualität und Klassenkampf« hieß und von Reimut Reiche stammte.
1972, ich war inzwischen Student, durfte ich zum ersten Mal wählen. Unterdessen war unsere Willy-Euphorie verflogen. Brandt hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass Anfang des Jahres der sogenannte Radikalenerlass in Kraft getreten war, der verhindern sollte, das Leute wie wir in den öffentlichen Dienst gelangten. Was also tun? Ich habe mangels Alternativen dennoch SPD gewählt, aber mit der oben bereits erwähnten geballten Faust in der Tasche. Ich kann mich auch in der Folge an keine Bundestagswahl erinnern, bei der ich mit Begeisterung und ohne Vorbehalte irgendeine Partei gewählt hätte. Das betraf in den frühen Jahren die SPD, später die Grünen und die Linke. Wahlen, schrieb Sartre in einem Artikel aus dem Jahr 1973, sind »Idiotenfallen«. Dem stimme ich im Kern immer noch zu, auch wenn uns Sartres Thesen heute etwas fremd vorkommen. Sie stammen aus einer verflossenen Zeit, was sie aber nicht falsch macht.
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Der schwarze Fingerhandschuh liegt noch immer unter meinem Balkon auf der Straße. Es sind inzwischen viele Autos über ihn gerollt und er ist fast schon nicht mehr als Handschuh erkennbar. Er ist Teil des Schmutzes geworden, der sich auf der Straße ansammelt und demnächst von einer Maschine zusammengekehrt und aufgesaugt werden wird. Ich wundere mich immer noch darüber, wie leicht Menschen verlorene Gegenstände aufgeben und abhaken. Man kauft sich halt ein Paar neue Handschuhe, was solls? Wenn ich den Verlust eines Handschuhs bemerkt hätte, wäre ich die Strecke noch einmal abgefahren und hätte nach ihm gesucht.
Vom Wert des Verlorenen
Im konsumistischen Zeitalter wird eine solche Verhaltensweise schnell als neurotisch diagnostiziert und mit dem »analen Syndrom« zusammengebracht. Zum konsumistischen Credo gehört, sich von liebgewordenen Dingen trennen zu können und sich öfter mal etwas Neues zu »gönnen«. Anders wären die riesigen Warenmengen nicht an die Menschen zu bringen. Theodor W. Adorno hat sich früh mit der Wegwerfmentalität beschäftigt und zu bedenken gegeben: «
ohne Fixierung der Libido an Dinge wäre Tradition, ja Humanität selber kaum möglich. Eine Gesellschaft, die jenes Syndroms sich entledigt, um alle Dinge wie Konservenbüchsen wegzuwerfen, springt kaum anders mit den Menschen um.«
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Auf dem Alten Friedhof staune ich immer wieder, wie viel Platz auf manchen Grabsteinen mit der Aufzählung der beruflichen Stellungen und Titel des Verstorbenen verschwendet wurde: Landgerichtsrat, Forstrat, Oberbaurat, Medizinalrat, Professor für dies oder das. Ob jemand wirklich gelebt und ein gutes Leben geführt hat, erfährt man nirgends. In Bayern sagt man an dieser Stelle: »Des konnst net mitnehma!«
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Trump und Vance haben Selenskyj mangelnden Respekt vorgeworfen. Aus meiner Arbeit im Gefängnis weiß ich, was das Wort »Respekt« im Gangstermilieu bedeutet: Es ist nur ein anderes Wort für Angst und Unterwerfung. Man soll seinem Peiniger die Füße küssen. Dabei bedeutet Respekt ja ursprünglich: sich nach etwas umsehen, auf etwas Rücksicht nehmen und ist ein zentraler Aspekt jedes moralischen Handelns. Als moralische Kategorie beinhaltet der Begriff des Respekts die Anweisung, andere Menschen nicht als Rohstoff oder Mittel für fremde Zwecke zu benutzen.
Dieser Begriff des Respekts ist dem Kantschen Begriff der Würde verschwistert. Respekt in diesem emphatischen Sinn wäre unsere Fähigkeit, uns in andere einzufühlen, mit ihnen mitzufühlen, unser Verhältnis zu ihnen in richtiger Perspektive zu sehen und sie als Subjekte mit eigener Würde und als Menschen mit unantastbaren Rechten anzuerkennen. Insofern war die Inszenierung im Weißen Haus eine Veranstaltung der Würdelosigkeit und der Respektlosigkeit.
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In letzter Zeit wird gelegentlich Klage geführt über die Vermüllung, die überquellenden Abfallkübel und den überhand nehmenden Dreck in der Stadt. Das wirklich Traurige ist, dass diese Vermüllung nur das äußerlich sichtbare Symptom für den Verfall des Gemeinwesens darstellt. Dessen Ursachen liegen viel tiefer und lassen sich nicht von der Stadtreinigung und dem Ordnungsamt beseitigen. Immer mehr Menschen sind mit der Stadt und der Gesellschaft insgesamt nicht mehr wirklich verbunden und fühlen sich diesen gegenüber infolgedessen zu nichts verpflichtet. Bindungen sind aber das einzige wirksame Gegengift gegen Verrohung, Indifferenz und Vandalismus. Bindungen bringen Überzeugungen hervor, die dafür sorgen, dass ein Mensch in seinem Verhalten und Erleben die Anderen und deren Gefühle berücksichtigt.
Fehlt aber die affektive Bindung ans Gemeinwesen, breiten sich Haltungen wie diese aus: Man will einen defekten Kühlschrank loswerden, also stellt man ihn an der nächsten Straßenecke ab, wo auch schon alte Matratzen und ein kaputtes Bügelbrett liegen. Aus Bindungen entstehen moralische Verpflichtungen, Bindungslosigkeit begünstigt einen laxen Umgang mit Normen und Regeln.
Nun ist diese Gesellschaft seit einiger Zeit dazu übergegangen, im Namen einer sich totalisierenden Warenproduktion und der damit verbundenen Flexibilisierung Bindungen bewusst und systematisch zu zerstören. Die Leute sollen ihr Herz an nichts mehr hängen und sich an drehende Marktwinde permanent anpassen.
Als ich heute Morgen zum Einkaufen in die Stadt ging, stellte ich fest, dass die Vermüllung auch in unserer Straße angekommen ist. In einer der letzten Nächte hat jemand vor dem Nachbarhaus einen verranzten Teppichboden abgelegt. Vielleicht hatte derjenige die Hoffnung, die Müllleute würden den Teppich mitnehmen, was sie natürlich nicht taten. Außerdem wird es demjenigen scheißegal gewesen sein. Hauptsache weg damit! Angefangen hat die Vermüllung mit Kisten voller Krimskram, auf denen ein Zettel anbietet: »Zu verschenken.« Das ist eine bequeme und vor allem kostengünstige Form der Entsorgung, die sich als Großzügigkeit und Altruismus tarnt.
Erinnerungen an Peter Bichsel
Wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag ist im März der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel gestorben. Ich habe ihn sehr geschätzt. Er war ein Meister der kleinen Form. Er schrieb unzählige Kurz- und Alltagsgeschichten. Außerdem war Bichsel ein unermüdlicher Streiter für wahrhaft demokratische Verhältnisse. Obendrein hatte er den Schalk im Nacken. Eine meiner Lieblingsgeschichten von ihm heißt »Der Briefträger« und ist in dem Band »Gegen unseren Briefträger konnte man nichts machen« enthalten. Sie erzählt von einem Briefträger, der »die Post verteilte wie eine persönliche Gunst. Er - so schien es - entschied darüber, wer einen Brief bekommt, eine Postkarte, eine Mahnung oder eine Zeitung. ... Er war so etwas wie ein Götterbote. Es waren sozusagen seine eigenen Briefe - auf die er ab und zu wohlwollend verzichtete, sie wohlwollend einem glücklichen oder unglücklichen Empfänger übergab.«
Dieser Briefträger ist ein leidenschaftlicher Leser. Er las in den Zeitungen, bevor er sie in den Briefkasten steckte, er öffnete Drucksachen und studierte die Postkarten. »Und wenn ihm eine Postkarte ganz besonders gefallen hatte, dann legte er sie nicht nur in den Briefkasten, sondern läutete, grüßte freundlich und sagte: Ihrer Schwester im Tessin geht es sehr gut, sie haben wunderschönes Wetter, und sie hat sich gut erholt. Hätte jemand über sein Verhalten bei der Post geklagt, er hätte wohl Schwierigkeiten bekommen und wäre wohl im Wiederholungsfall entlassen worden. Aber geklagt hat niemand. ... Das Postgeheimnis war bei ihm in guten Händen. ... Er liebte uns, und seine Schnüffelei war Anteilnahme.«
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Im Botanischen Garten blühen die Buschwindröschen. Weiß recken sie ihre Blütenkelche aus dem Gras - der Sonne entgegen. Weiter hinten im Garten sehe ich eine Amsel, die aus einem Pflanzentrog Wasser trinkt. Sie taucht ihren Schnabel ins Wasser, nimmt Wasser auf und legt dann ihren Kopf in den Nacken, um die Flüssigkeit die Kehle hinunter rinnen zu lassen. Zwischendurch setzt sie sich auf den Rand des Trogs und denkt nach. Jedenfalls nehme ich das an. Ich sehe ihr eine Weile zu, bis sie irgendwann genug von mir oder dem Wasser hat und davonfliegt. Am anderen Ende des Gartens strotzt eine Magnolie vor Blüten. Im Geäst des Baums summt es. Bienen sind unterwegs und saugen den Nektar aus den Blüten. Es ist Frühling. Trotz allem und alledem.
Der Gießener Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band unter dem Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« im Verlag Wolfgang Polkowski erschienen ist. Foto: Polkowski