Ich bin als Nachkriegskind mitten in einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets aufgewachsen. Damals klingelten die Bürstenbinder aus der im Ortsteil gelegenen Blindenanstalt an unserer Tür. Sie verkauften Bürsten und Besen und verdienten damit ihren Lebensunterhalt. Die kriegsversehrten Männer mit Beinstümpfen hatten ihre Holzkrücken unter den Arm geklemmt. Klumpfüße steckten in unförmigen braunen Schuhen. Kinder liefen mühsam mit Lederschienen am Bein, sie hatten Kinderlähmung. Die menschlichen Ruinen fügten sich ein in die steinernen, in denen wir spielten.
Die Menschen wurden versteckt
Wir wurden groß mit diesen Menschen und der längst verpönten diskriminierenden Sprache. Wer geistig behindert war, wurde als zurückgeblieben bezeichnet. Menschen mit Trisomie 21 waren Mongoloide. Erst in den 80er Jahren, nachdem man Erkenntnisse über die genetische Ursache hatte, wandelte sich diese Bezeichnung in Down-Syndrom.
Wahrscheinlich starrten wir all diese Menschen an oder blickten verlegen zur Seite, wenn sie, selten genug, aus den Heilanstalten, die Aufbewahrungshäusern glichen, in die Stadt kamen. Ich höre noch meine Mutter mitleidig sagen: »Die armen Geschöpfe.« In den Köpfen unserer Eltern war die Euthanasie des Dritten Reiches noch präsent und die abgeschotteten Heime waren ein Segen. Uns Kindern sagte das nichts. Aber mir waren diese Äußerungen peinlich.
Die Menschen wurden versteckt. Sie blieben unter sich. Wer in der Volksschule nicht mitkam, ging auf die Hilfsschule. Ab und zu zeigten sich »Liliputaner« im Zirkus, heute sagt man Kleinwüchsige. Ihr Makel passte in das Klischee und brachte Geld.
Mit dem Contergan-Skandal Ende der 60er Jahre trat eine Wende ein. Die Babys, die mit Missbildungen an den Gliedmaßen oder ganz ohne geboren wurden, hatten Familien, die sich kümmerten. Die Wissenschaft beschäftigte sich mit den Ursachen, die Familien kämpften um Aufklärung und Anerkennung, die Medien nahmen Notiz von ihnen. Zumindest Körperbehinderung wurde sichtbar und bekam einen Namen.
Berührungsängste, die es immer noch gibt
Die Gesellschaft begann sich zu solidarisieren. Nicht zuletzt deshalb, weil die Menschen von klein auf lernten, sich den Alltag mit ihrem Handicap einzurichten. Man traute ihnen aber noch nicht zu, dass sie sich mit den anderen Kindern in Schule und Sport messen konnten. Die Bewunderung für ihre Leistung im Alltag stieg erst mit ihrem wachsenden Selbstbewusstsein im zunehmenden Lebensalter. Eines der besten Beispiele ist der Opernsänger Thomas Quasthoff.
Ich erinnere mich an ein lernbehindertes, stets fröhliches Mädchen in unserem Dorf. Mitte der 80er Jahre besuchte es die erste Klasse in der Grundschule meines Sohnes, bis man ihr Defizit erkannte und es auf eine Förderschule schickte. Heute wäre es vermutlich in einer inklusiven Schule gut untergebracht.
Wer nie die Chance zur Begegnung mit behinderten Menschen hatte, wird nach wie vor mit Berührungsängsten kämpfen. Wie geht man mit ihnen um? Die größte Sorge ist, sie nicht zu verstehen in ihrem Handicap. Kinder sind dabei unbefangen, habe ich bei den ersten Sport- und Spielfesten für Behinderte und Nichtbehinderte in den 90er Jahren in Bayern erfahren.
Wenn Eltern zögern
Nach der Jahrtausendwende hatte ich in Baden-Württemberg sogar die Gelegenheit, schwerst mehrfach behinderte Menschen mit ihren »dolmetschenden« Betreuern zu interviewen. Es war eine beglückende Erfahrung, wie sie von ihren Träumen, ihren Freundschaften und Abneigungen erzählten. In dieser Zeit nahm dort die Inklusion rasanten Fortschritt. Es entstanden inklusive Musikbands, Arbeits- und Wohnstätten stadtnah, Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt und inklusive Wohngemeinschaften, viele als Pilotprojekte.
Die steigende Lebenserwartung für Menschen mit Handicap und ihr zunehmender Wunsch nach Selbstständigkeit stellen Einrichtungen wie die Lebenshilfe und Kommunen vor neue Herausforderungen. Sicher ist nicht jedes Angebot für jede Art von Behinderung umsetzbar. Grundsätzlich zögern Eltern aber damit, ihre erwachsenen Kinder aus ihrer beschützenden Obhut in die betreute Selbstständigkeit zu entlassen.
Insofern ist das geplante Wohn- und Gesellschaftsprojekt in der ehemaligen Johanneskirche in Bad Nauheim ein wichtiger Schritt in die Zukunft. Die Charity-Gala mit ihren spendablen und illustren Gästen macht es vor: Menschen mit Handicap gehören mitten in unsere Gesellschaft.
Inklusion in der Wetterau
Als sich Andreas Weigand und Oliver Wohlers Mitte der 2000er Jahre nach inklusiven Angeboten umgehört haben, haben sie festgestellt: Inklusion ist noch kein wirkliches Thema. Der Gedanke von einem selbstverständlichen Miteinander von klein auf begann 2009 mit ihrer Initiative der Charity-Gala und dem Bau der Sophie-Scholl-Schule. 2002 waren schon die ersten Bewohner in eine betreute Wohnanlage der Lebenshilfe in Friedberg-Fauerbach eingezogen. 2017 folgte die Wohnstätte der Lebenshilfe Wetterau in Gedern, die mitten im Zentrum Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Im selben Jahr wurde die InkA gGmbH gegründet, die junge Menschen mit geistiger Behinderung oder Lernschwäche bei der Suche nach Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Wetteraukreis unterstützt und den Übergang von der Schule zum Beruf begleitet. Inklusive Betriebe entstanden, der Wetteraukreis wurde Modellregion, das erste gastronomische Projekt wurde mit dem Café Jost im November 2022 eröffnet. 2023 fand in Bad Nauheim die erste Inklusionswoche statt. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von inklusiven Kultur-, Sport-, Musik-, Bildungs- und Beratungsangeboten, Schulen und Kindergärten. Ansprechpartner sind die Kommunen und der Wetteraukreis.