Karlheinz Naumann hat gerade vor dem Niddaer Rathaus mit Michael Kast die Fahrtroute des Bürgerbusses abgesprochen. Es geht darum, ältere Menschen abzuholen, die sich zum Seniorenmittagstisch im Karl-Dietz-Haus angemeldet haben. Seit 13 Jahren erledigt Naumann diese Fahrten - gleich beim ersten Halt in Ober-Lais merkt man, dass er seine Leute perfekt kennt.
Marie Böck, die den Seniorenmittagstisch seit zehn Jahren besucht, wartet schon mit Rollator an der Haustür. Naumann hilft ihr über eine Stufe im Gartenweg und beim Einstieg in den Bus. Er verstaut den Rollator im Kofferraum und fragt, wie es der Familie geht. »Sie sinn all in der Reih«, sagt Böck. Dann holt Naumann in Kohden Liesel Berk und in Nidda in den Seniorenwohnungen in der Bahnhofstraße Petra Jäger ab. Die beiden Seniorinnen nehmen seit vier Jahren oft am Mittagstisch teil, sind aber auch für die Treffen des Seniorenclubs der Kernstadt, für die Seniorenausflüge und -weihnachtsfeiern auf Fahrgelegenheiten angewiesen. Das gilt für viele aus ihrer Altersgruppe. Naumann: »An manchen Tagen fahre ich glatt 90 Kilometer, bis ich alle abgeholt und nach dem Essen wieder zurückgebracht habe.«
Intensive Gespräche
Während der Fahrt sind die Gespräche eher kurz, es geht um Beobachtungen aus dem Fenster (»Ei guck emol, der Otto lässt sei Dach neu decke, des wird deuer!«) oder aktuelle Gesundheitsfragen (»Du wirsd dein Huste aach so lang net los!«).
Intensiv sind die Gespräche beim Mittagtisch, beim Handarbeitskreis im Karl-Dietz-Haus, während der Ausflüge, bei Feiern, in den Seniorenclubs. Das bestätigt auch Reimund Becker, der als Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Nidda oft mit Senioren unterwegs ist und den Bürgerbus nutzt. »Erinnerungen bis zu 60 Jahre zurück spielen eine große Rolle, vor allem bei Leuten aus demselben Ort, vielleicht Schulkameraden«, schildert er. Die Männer sprächen über die Arbeit, ein Lieblingsthema sei auch König Fußball.
Es mache nachdenklich, den Frauen zuzuhören, die ja angeblich nur das »bisschen Haushalt« hatten. Reimund Becker sagt: »›Was haben wir alles geschafft‹ ist ein Standardsatz. Und das mit gutem Grund. Oft waren die Familien auf Nebenerwerbslandwirtschaft angewiesen. Die Frauen machten alles, was ihr berufstätiger Mann als Mondscheinbauer nicht erledigen konnte. Dazu haben sie Kinder großgezogen und alte Menschen oft über Jahre gepflegt. Ich freue mich über den Stolz auf ihre Lebensleistung.«
Bei einem Gespräch im Karl-Dietz-Haus wird noch ein weiterer Aspekt deutlich: »Beim dritten Kind habe ich eine Waschmaschine bekommen, die Schleuder war noch extra. Das nasse Zeug musste umgeladen werden«, erzählt eine Teilnehmerin.
Das Wirtschaftswunder nahm bei vielen Familien nur langsam Fahrt auf, Zeitgeschichte spiegelt sich in den Gesprächen. Werner Kristen, noch heute Veteran beim Stadtorchester und der »Oberhessischen Dampfmusik«, wünschte sich als kleiner Junge sehnsüchtig ein Musikinstrument. Aber: Mutter und Kinder waren aus dem Sudetenland geflüchtet, der Vater kam erst 1948 aus der Kriegsgefangenschaft und musste mit einem knappen Gehalt die Familie ernähren. Es reichte nur für eine Mundharmonika. Dann eine unerwartete Chance: Ein Onkel kam nach Hause, entdeckte am Arbeitsplatz im Steinbruch eine Trompete, die noch brauchbar war, und konnte sie mitnehmen. Kristen: »Das Unternehmen hatte eine Betriebskapelle, übrigens manche der Papierfabriken im Niddatal auch. Mein Onkel hat mir das Spielen beigebracht, ich benutze die Trompete heute noch.«
Senioren vernetzen sich
Deutliche wird, dass sich Senioren vernetzen. Ein Mann kam still und gedrückt zum Mittagstisch, er hatte vor Kurzem seine Frau verloren. Er freundete sich dann mit einem anderen Witwer an, die beiden unternehmen seitdem an den Wochenenden etwas und sind dem Seniorenmittagstisch treugeblieben.
Ist Nidda eine seniorenfreundliche Stadt? Spontan gibt es Zustimmung beim Mittagstisch. »Es wird vieles geboten. Man muss halt nur hinkommen können« - ein indirektes Kompliment an den Bürgerbus.
Bedenkenswert ist die Kritik eines alten Mannes: »Es gibt zu wenig öffentliche Toiletten, die am Markt ist oft kaputt.« Weil Senioren auch gern lachen, wird geflachst: Männer könnten im Notfall immer noch leichter im Grünen improvisieren als Frauen…
Bei einem Fahrertreffen der Stadtverwaltung am 20. Februar wurde deutlich: Je mehr ehrenamtliche Fahrer und Fahrerinnen sich für den Bürgerbus finden, desto mehr kann dieser für nicht mobile Menschen genutzt werden. Nach einem Artikel in dieser Zeitung haben sich zur bestehenden Fahrergruppe weitere Engagierte gemeldet. Allerdings müssen sie aus versicherungsrechtlichen Gründen noch zu einer medizinischen Untersuchung, für die keine Kosten entstehen. Karlheinz Naumann und Jean-Claude Guichard teilen sich jetzt die Koordinationsaufgabe. Wer Fahrdienste übernehmen möchte, kann sich bei der Fachstelle Soziales, Geertje Adjinschi, unter 0 60 43/8 00 61 66 melden. Am 21. Mai wird es ein Fahrertreffen geben. Wenn die Kapazitäten ausreichen, kann das Nachmittags-Einkaufsangebot »Ab in die City« einmal pro Woche starten. Die Engagierten der Ehrenamtsagentur fahren nach Absprache auch Hilfsbedürftige, die von ihnen betreut werden, zu Arztbesuchen. Dafür kann man sich direkt an die Ehrenamtlichen oder den Vorsitzenden Holger Selle (01 51/70 02 96 66) wenden.