Es ist kurz vor 18 Uhr an einem Montag, als Jakob Handrack durch den dichten Feierabendverkehr in Gießen navigiert. Seine Schicht begann vor fünf Stunden, nun steht ein weiterer Besuch in der Nordstadt an: Andreas Steffen (Anm.: Name auf Wunsch des Klienten geändert), 49 Jahre alt, Werkstattmitarbeiter der Lebenshilfe Gießen und seit zwei Jahren Klient des Ambulanten Pflegedienstes des gemeinnützigen Unternehmens. »Die Salbe taugt nichts, das ist keine Akutsalbe«, begrüßt Andreas ihn lachend, während Handrack bereits das Duschwasser temperiert. Zweimal pro Woche unterstützt der Pfleger, zugleich stellvertretender Leiter des Dienstes, beim Duschen, täglich bringt er Medikamente vorbei, misst Blutdruck und Gewicht - und hört zu, wenn Andreas über seine Rückenschmerzen spricht. »Spaß muss auch sein auch«, sagt Andreas, »aber Jakob schaut auch nach meiner Gesundheit. Das ist das A und O.«
Insgesamt 170 Klienten versorgt
Der Ambulante Pflegedienst der Lebenshilfe Gießen, seit 2023 eine eigenständige gGmbH und mit seinem Hauptsitz in Fernwald, versorgt täglich 55 bis 60 von insgesamt 170 Klientinnen und Klienten, die weiteren sporadisch - überwiegend Menschen mit Behinderung, aber auch ältere oder chronisch kranke Personen.
»Wir arbeiten eng mit pädagogischen Einrichtungen zusammen, nicht nur von der Lebenshilfe, sondern auch anderen Trägern«, erklärt Pflegedienstleitung Mareen Schmitt. »So stellen wir eine ganzheitliche Versorgung sicher.«
Das Konzept überzeugt: Andreas Steffen schätzt, dass bei der Lebenshilfe Gießen »alles in einer Hand« liegt - Arbeit, Pflege, Betreuung. »Die Betreuer tauschen sich mit uns aus, wenn es um Andreas´ Schmerzen oder Alltagshürden geht«, erklärt Jakob Handrack.
Die Grenzen zwischen Pflege- und Assistenzleistungen sind oft fließend, und nicht alle erbrachten Leistungen können abgerechnet werden.
Verträge des Paritätischen Verbands mit den Krankenkassen sehen vor, dass bei der Erbringung mehrerer Leistungen die Medikamentengabe nicht separat abgerechnet werden darf, so Handrack. Mareen Schmitt verdeutlicht dies mit einem Vergleich: »Das ist, als würde man im Geschäft ein Pfund Kaffee kaufen und dazu einfach die Kaffeefilter einstecken.« Dieser Umstand werde von den Krankenkassen, als selbstverständlich vorausgesetzt, was eine Herausforderung für die Pflegedienste darstellt - nicht nur in Bezug auf die Anerkennung ihrer Arbeit, sondern auch hinsichtlich der finanziellen Belastungen, die dadurch entstehen.
Überhaupt: Die Herausforderungen sind vielfältig. Handracks Tag ist geprägt von »Hetze und Herzlichkeit«.
An langen Tagen wie heute besucht er 17 Klienten in Gießen und Umgebung - viel Fahrerei, wenig Pufferzeit:
»Wir pflegen nicht mit der Stoppuhr, Schnacken muss auch sein, das würden unsere Klientinnen und Klienten auch nicht verstehen, wenn das nicht so wäre. Aber wir müssen schon schauen, dass es wirtschaftlich ist.«
Touren werden kontinuierlich optimiert, Dokumentation per App erledigt - doch der wahre Zeitfresser sei die übergeordnete Bürokratie: Anträge, Abrechnungen, Diskussionen mit Kranken- und Pflegekassen. »Aktuell habe ich nichts anderes zu tun, als mich mit der Krankenversicherung auseinanderzusetzen«, seufzt Mareen Schmitt. Die finanziellen Belastungen steigen: Tariferhöhungen, Spritkosten, ungedeckte Leistungen wie Supervision. »Man kann kein angenehmes Arbeitsumfeld schaffen, wenn solche Dinge nicht refinanziert werden«, so Schmitt. Die Lebenshilfe stemmt dies dennoch - ein Luxus, den viele Pflegedienste nicht haben.
Viele leben am Existenzminimum
Hinzu kommt ein strukturelles Problem: Viele Klientinnen und Klienten leben am Existenzminimum, nutzen ihr Pflegegeld, um soziale Härten auszugleichen - etwa Lebensmittel zu kaufen.
»Das Pflegegeld wird einbehalten, obwohl es für Pflege gedacht ist«, kritisiert Jakob Handrack dabei weniger das in Zeiten der Inflation menschlich nachvollziehbare Verhalten seiner Klienten als vielmehr die vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen. »Da gerät die eigentliche Versorgung in den Hintergrund.«
Mareen Schmitt fordert klare Regeln und eine sozial gerechtere Grundsicherung: »Es kann nicht sein, dass Menschen zwischen Pflegebedarf und den notwendigen Dingen zum Lebensunterhalt wählen müssen. Die Politik muss endlich sozial ausreichende Leistungen garantieren. Es wäre wünschenswert, dass Menschen so gepflegt werden können, wie sie es brauchen - ohne finanzielle Zwänge.«
Handrack schwärmt von musiktherapeutischen Ansätzen, die Schmerzen lindern und Medikamente reduzieren könnten - doch solche Betreuungsleistungen seien oft nicht refinanzierbar.
»In anderen Ländern ist die Pflege professioneller aufgestellt«, sagt er. »Warum nutzen wir nicht das Wissen der Pflegekräfte, um Konzepte zu entwickeln, die langfristig Kosten sparen? Das wäre eine Win-win-Situation. Da liegt auch für Deutschland eine Chance.«
Trotz aller Hürden herrscht im 20-köpfigen Pflegedienstteam eine »gute Stimmung und ein guter Zusammenhalt«, betont Schmitt. Der Pflegedienst habe noch Kapazitäten, dank optimierter Abläufe.
Und Klienten wie Andreas Steffen spüren das Engagement: »Ich bleibe bei der Lebenshilfe. Hier fühle ich mich gut aufgehoben.« Passend zum Motto des Internationalen Tags der Pflege am 12. Mai 2025 - »Our Nurses. Our Future. Caring for nurses strengthens economies« (deutsch: »Unsere Pflegekräfte. Unsere Zukunft. Die Unterstützung von Pflegekräften stärkt die Wirtschaft«) - fordert Dirk Oßwald, Vorstand der Lebenshilfe Gießen sowie Pflegedienst-Geschäftsleitung, mehr Wertschätzung: »Pflegekräfte sind das Rückgrat unserer Gesellschaft.
Appell an Politik zum Tag der Pflege
Doch ohne ausreichende Finanzierung und klare Rahmenbedingungen wird dieses Rückgrat brüchig.
Wir brauchen eine Pflegeversicherung, die nicht nur kurzfristig denkt, sondern langfristig die Würde und Teilhabe aller Menschen sichert - und diejenigen unterstützt, die diesen Auftrag täglich erfüllen.«
Während Jakob Handrack seine Tour in Pohlheim fortsetzt, bleibt ein Gedanke: Pflege ist mehr als Waschen, Verbinden, Medikamente verabreichen.
Sie ist Zuhören, Lachen, Dasein - und verdient ein System, das diese Menschlichkeit trägt, statt sie zu bremsen.
Weitere Informationen auf www.lebenshilfe-giessen.de.