Philipp Langstroff schiebt ein Tretauto über das Pflaster der Licher Altstadt. Dass er diesen Sommer eine Vermietung für die kleinen Flitzer mit Pedalbetrieb eröffnen würde, hatte er Anfang März noch nicht gedacht. Damals war sein Wochenplan voll, leitete er elf Chöre in sieben verschiedenen Gesangvereinen. Dann kam Covid-19, brachen für den hauptberuflichen Chorleiter die Einnahmen weg.
Half da nicht die Corona-Soforthilfe? Langstroff winkt ab: Für Chorleiter wird diese nicht ausbezahlt. Stattdessen versucht er nun, mit einem eigenen kleinen Laden die Zeit bis zum Ende der Pandemie zu überbrücken. »Ich setze alles daran, nach Covid-19 wieder als Chorleiter zu arbeiten«, sagt er. Von einigen Berufskollegen hat er allerdings bereits gehört, dass sie das Handtuch werfen wollen.
Chorleitermangel befürchtet
Andrea Eller, Vorsitzende des Chattia-Sängerbundes, ist wegen dieser Entwicklung in Sorge. »Chorleiter, die in dieser Situation sind, haben durchblicken lassen, dass sie auf der Suche nach Festanstellungen sind und anschließend möglicherweise nicht mehr für die Chöre zur Verfügung stehen«, sagt sie. »So kann es alsbald an qualifizierten Chorleitern fehlen.«
Doch auch die Vereine selbst geraten zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten. »Durch den Wegfall von Konzerten Ständchen, Vereinsfesten und sonstigen Auftritten fehlen den Chören nicht unerhebliche Einnahmen«, sagt Klaus Kummer, Bundesvorsitzender des Sängerbundes Hüttenberg-Schiffenberg. Einige Vereine hätten ihre Chorleiter auch in der probenfreien Zeit weiter bezahlt, um sie für einen Neustart zu halten. Kummer hofft: »Die meisten Chöre sollten durch die Mitgliedsbeiträge die kritische Zeit finanziell überstehen.«
Eller sieht die Lage skeptischer: Zu den abgesagten Veranstaltungen kämen bei vielen Vereinen sinkende Mitgliederzahlen dazu. »Daher sehe ich ein längeres Ausbleiben von Verdienstmöglichkeiten als sehr problematisch an. Die Vereine zehren von ihren Rücklagen.«
Wird man die Vereine in dieser Situation unterstützen? Der Landkreis erklärte auf Nachfrage, dass ihm bislang noch keine Informationen zur Situation der Gesangvereine vorliegen würden, ein Hilfsprogramm ist bislang nicht geplant.
Einigen Vereinen droht das Aus
Chorleiter Langstroff befürchtet, dass es nach Corona einige Gesangsvereine nicht mehr geben wird - und dies nicht nur aus finanziellen Gründen. So gebe es Ensembles, deren Altersdurchschnitt bei 75 Jahren liegt und die seit Jahren keine neuen Mitglieder finden konnten. Jahr um Jahr würden diese schrumpfen, seien mittlerweile bei einer Kerntruppe angekommen. Wenn nun nur eine handvoll aktiver Sänger sich nach der Pandemie zurückzieht, sind sie nicht mehr auftrittsfähig.
»Ein hoher Altersdurchschnitt, welcher insbesondere bei etlichen Männerchören zu verzeichnen ist, ist in dieser Zeit ein kritischer Faktor«, sagt Kummer. Gruppen, die noch nicht wieder den Probenbetrieb aufgenommen oder auf andere Weise Kontakt gehalten haben, sieht er in Gefahr. »Es könnte sich ein Gewöhnungseffekt ergeben: Jetzt habe ich so lange nicht gesungen, jetzt fange ich auch nicht mehr an.« Auch Eller sieht dieses Risiko: »Vereinzelt hat es schon Austritte gegeben.« Doch auch Sänger, deren Chöre wieder üben, haben ein Motivationsproblem: Es fehlt ein Auftritt, ein Konzert als Ziel. »Vielen ist nicht klar, warum sie das machen sollen«, sagt Langstroff.
Weihnachtskonzerte unrealistisch
In einem normalen Jahr hätten längst die Proben für die Auftritte in der Adventszeit begonnen. Doch diesen Dezember droht eine andauernde »Stille Nacht«: »Weihnachtskonzerte werden aus meiner Sicht dieses Jahr nicht stattfinden«, sagt Eller vom Chattia-Sängerbund. Auch die Gesangvereine im Sängerbund Hüttenberg-Schiffenberg haben alle ihre Veranstaltungen für dieses Jahr sowie Beginn des nächsten Jahres bereits abgesagt, sagt Kummer.
Langstroff ist von dieser Entscheidung nicht überrascht. »Wenn im Dorf ein Chor in der Kirche steht, ist diese nach den aktuellen Hygienevorschriften voll.«
Selbst wenn sich die Situation in den nächsten Wochen normalisieren würde, seien keine großen Auftritte mehr zu erwarten. »Ich habe mal in acht Wochen ein Weihnachtskonzert auf die Beine gestellt«, sagt Langstroff. »Da waren die Sänger aber im Training.« Derzeit seien die meisten Sänger aber von ihren normalen Form weit entfernt.
Es gibt aber trotz Covid-19 auch Lichtblicke. Langstroff freut sich etwa über die Sänger, die zu den Proben kommen: »Die, die jetzt singen, die wollen das auch.« Kummer sieht die Chance, nun in Ruhe neue Chorliteratur einzustudieren. »In Ruppertsburg soll ein Kinderchor gegründet werden«, freut sich Eller. »Das sind doch beste Voraussetzungen für das Fortbestehen der Chorszene.«