28. April 2020, 13:00 Uhr

Siegen

»Schwedens Weg muss nicht falsch sein«

Prof. Dr. Claus Wendt hat an der Universität Siegen den Lehrstuhl für »Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems« inne. Er spricht über den Corona-Ansatz in Schweden.
28. April 2020, 13:00 Uhr
Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich zählen zu den Forschungsschwerpunkten von Prof. Dr. Claus Wendt von der Universität Siegen. Foto: Universität Siegen

Schweden hat in der Corona-Krise einen anderen Weg eingeschlagen als andere Länder. Kindergärten, Schulen, Restaurants und Einzelhandel blieben geöffnet, während anderswo das öffentliche und wirtschaftliche Leben fast vollständig heruntergefahren wurde. Dafür wurde Schweden von Anfang an heftig kritisiert. Von einem fahrlässigen Sonderweg ist die Rede.

Richtig oder falsch nach der Krise absehbar

Die Kritik kann richtig sein - sie kann aber auch vollkommen falsch liegen, sagt Prof. Dr. Claus Wendt von der Uni Siegen: »Erst nach Ende der Krise, wenn wir einen Überblick darüber haben, in welchem Ausmaß die Sterblichkeit des Jahres 2020 von den Vorjahren abweicht, wissen wir, mit welcher Strategie die Menschen am besten geschützt werden konnten. In allen Ländern werden Entscheidungen bei schlechter Sicht und unter Unsicherheit getroffen.« Um die in Schweden getroffenen Entscheidungen zu verstehen - nicht um sie zu rechtfertigen oder als Vorbild zu nehmen -, sind laut Wendt verschiedene Punkte zu berücksichtigen.

Andere Voraussetzungen

Zum einen gebe es kaum ein Land, das über so gute epidemiologische Daten verfüge wie Schweden. Dort haben alle Bürger eine Sozialversicherungsnummer, unter der demografische und Gesundheitsdaten gespeichert werden. Unter hohen Auflagen können Wissenschaftler diese Daten verwenden. »Wenn man wissen will, wie sich Krankheiten entwickeln und welche Einflussfaktoren hierfür von Bedeutung sind, ist man gut beraten, auf Schweden mit seinen Registerdaten zu blicken. Ein ähnliches Datenniveau, um die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten im Zeitverlauf zu erfassen, ist nicht erhältlich«, erklärt Wendt.

Für Deutschland gelte es, der Forschung besseren Zugang zu Gesundheitsdaten der Bevölkerung zu ermöglichen, damit diese für gesundheitspolitische Entscheidungen bei einer zukünftigen Epidemie berücksichtigt werden können, fordert Wendt.

Schweden ab 2025 rauchfrei?

Zum anderen seien in Schweden Prävention und Gesundheitsförderung in den letzten Jahren umfassend gestärkt worden. Die Gesundheitsziele der WHO, beispielsweise die Reduzierung von Übergewicht und Rauchen, seien für die schwedische Gesundheitspolitik von großer Wichtigkeit, betont der Experte. Inzwischen seien weniger als zehn Prozent der Schweden über 15 Jahren tägliche Raucher. Ab 2025 soll Schweden vollständig rauchfrei sein. Durch weniger Raucher gibt es auch weniger Risikopersonen, für die Atemwegserkrankungen wie Covid- 19 besonders gefährlich werden können. »Man kann in einer gesundheitlichen Krisensituation anders agieren, wenn Gesundheit und Immunabwehr in der Bevölkerung schon im Vorfeld gestärkt wurden«, so Wendt.

Ungleichheiten erfolgreich reduziert

Durch den universalistischen schwedischen Wohlfahrtsstaat seien Armut und soziale Ungleichheit darüber hinaus sehr viel erfolgreicher reduziert worden als in anderen Ländern. Im Vergleich gebe es weniger gesellschaftliche Gruppen mit gesundheitlichen Problemen. »Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen reduzieren Vorerkrankungen und schützen so während einer Epidemie«, sagt Wendt, der gleichzeitig aber auch Schwächen der schwedischen Sozial- und Gesundheitspolitik ausmacht: »Dem Gesundheitssystem könnte vorgeworfen werden, dass die Zahl der Krankenhausbetten und der Intensivbetten zu gering ist. Der weitere Verlauf der Corona-Krise wird zeigen, ob es dem für seine leistungsfähige Verwaltung bekannten schwedischen Gesundheitssystem gelingt, die Intensivbettenzahl und die medizinischen Geräte auf das erforderliche Niveau anzuheben.«

Kommunen sind für Pflege verantwortlich

Ein Vorteil, den Schweden mit seinen nordischen Nachbarn teile, sei demgegenüber die effektive Koordination von Krankenhaus- und Pflegeleistungen auf kommunaler Ebene. Die Kommune ist für die Pflege älterer Menschen zuständig, ein Großteil davon erfolgt in Form von häuslicher Pflege. Zusammen mit der guten Datenlage bestehe so die Möglichkeit, die während der Corona-Epidemie besonders gefährdeten Risikogruppen zu identifizieren und erfolgreich zu schützen - und daher gleichzeitig weiten Teilen der Bevölkerung Freiräume zu lassen.

Vertrauen in die Politik

Schweden zeichne sich ebenso durch ein hohes gegenseitiges Vertrauen zwischen politischen Akteuren sowie Institutionen und der Bevölkerung aus, argumentiert Wendt: »Das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat wird durch positive Erfahrungen gestärkt. Gesundheit, soziale Sicherheit und geringe Ungleichheit prägen die Alltagserfahrungen. In einer solchen politischen Kultur führen Informationen über einen angemessenen Gesundheitsschutz zu Verhaltensänderungen, auch ohne dass Strafen drohen. Dann kann auf den Zeigefinger verzichtet werden, der nun in Ländern erhoben wird, die zunächst das öffentliche Leben heruntergefahren haben und jetzt nach einer passenden Exit-Strategie suchen.«

Das Fazit des Gesundheitsexperten: »Alle Länder werden aus der Pandemie lernen müssen. Auch Schweden wird seine Strategien anpassen müssen, damit das positive Verhältnis von Staat und Gesellschaft nicht geschwächt wird. Bei der Suche nach Verbesserungen des Gesundheitsschutzes wird Schweden möglicherweise auf Deutschland und Österreich blicken. Und umgekehrt.«

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